Muttersprache Mameloschn

Schwarze Löcher in der Familienaufstellung

Jetzt habe ich gleich zwei Stücke über jüdische Familien gesehen. Zuerst Die Träume der Abwesenden von Judith Herzberg und, kurz danach, das Stück von Sasha Marianna Salzmann. Beide Aufführungen zeigen, wie die Shoa nicht aus dem Leben der Familien weggedacht werden kann und wie unterschiedlich die jeweils drei Generationen damit umgehen. Herzbergs Trilogie ist ein Epos von fünf Stunden, mit 15 Protagonisten, und viel Handlung über mehrere Jahrzehnte. Salzmann dagegen verzichtet auf Handlung und gewährt dafür Einblick in das Seelenleben der drei Protagonisten: Großmutter, Tochter, Enkelin.

Foto: Bjørn Jansen
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Die 39 Stufen

Blödeln bis zur Schmerzgrenze

Könnte es sein, dass unsere Intendantin, Karin Becker, im letzten Winter schon wusste, dass Deutschland im November 2021 in schwerer Multikrise niedergedrückt sein würde? Dass die Menschen von Sorgen vor Krankheit, Angst um ihre Grundrechte, in Hass und Ärger aufeinander aufgewühlt und depressiv durch die dunklen Tage schleichen würden? Und dass sie dringend einer Aufmunterung bedürfen würden?

Vielleicht hat sie auch ihr Programm zusammengestellt nach dem Motto: Von allem etwas, dann ist für jeden was dabei. Wie auch immer. Ihre Wahl, nach klassischen, intellektuellen, experimentellen und romantischen Stoffen, nun den Humor in den November zu legen, war vermutlich nicht zufällig, und ganz sicher eine richtige Wahl.

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Anna Karenina

Beziehungsstatus einer 13-jährigen auf Facebook: „Es ist kompliziert“

Diesmal hatte ich die Gelegenheit ergriffen, mir den Preview zu Anna Karenina anzuschauen. Der Preview ist die letzte oder vorletzte Probe vor der Premiere. Als Mitglied im Theaterfreundeverein genießt man das Privileg, diesen Preview besuchen zu dürfen. Dramaturgie oder Regie geben eine kleine Einführung und im Anschluss gibt es ein Gespräch, in dem es vor allem darum geht, wie bestimmte Passagen aufgenommen wurden. Man blickt etwas hinter die Kulissen und lernt dazu.

Nach dem Preview, von dem ich nur die erste Halbzeit gesehen hatte, war ich enttäuscht. Was soll denn so ein Stück? Drei Paare der High Society mit ihren Beziehungsproblemen, Problemen von vor über hundert Jahren, mit denen sich heutzutage Pubertierende herumschlagen? Das Ganze reichlich konventionell vorgetragen. Zu keinem Zeitpunkt hatte mich die Aufführung berührt. Lediglich das hohe Handlungstempo hielt die müden Augen offen.

Wie anders dann die Premiere! Eigentlich hatte sich nichts verändert, aber plötzlich lebte das Stück. Schon die erste Szene markierte den Unterschied. Ioachim-Willhelm Zarculeaals als Lewin betritt mit Schlittschuhen die Bühne und schaut auf wackeligen Beinen ins Publikum. Das heißt, in einen vollbesetzten Saal erwartungsfreudiger Zuschauer. Ausgehungert nach Theater, wenn man so will, wie später Anna sich als ausgehungert nach Liebe bezeichnet. Und die Zuschauer schauen zurück und warten, dass etwas passiert. Und Zarculeaals seinerseits wartet und steigert die Erwartung der Zuschauer. So funktioniert Theater, endlich wieder alte Normalität.

Foto: Bjørn Jansen
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Die Verlorenen

Der Mensch erfolgreich spricht zu anderen nicht

Wenn ich bei gutem Wetter im Garten sitze, schweift mein Blick manchmal Richtung Apfelbaum. Und dann sehe ich dort Äste und Blätter, von denen ich nicht sagen kann, ob sie Teil des Baums oder Teil der nahestehenden Büsche sind. Farbe und Form unterscheiden sich kaum und den Augen gelingt es nicht, einen Unterschied in der Tiefenschärfe zu finden. Doch kaum weht ein Windhauch und bewegt die Blätter, trennen sich Baum und Gebüsch, man sieht die Dinge, wie sie tatsächlich sind.

Ähnlich ist es mit der Handlung in Ewald Palmetshofers Stück von 2019. Er zeigt uns eine Welt von einsamen, verlorenen Menschen, die sich fragen, inwieweit sie überhaupt noch Menschen sind. Und es sind die wenigen Interaktionen, die sich aus der Handlung ergeben, die deutlich machen, wie wenig es den Menschen gelingt, miteinander zu reden.

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Dosenfleisch

Oder gekochter Spinat?

Das gibt es ja durchaus. Dass man irgendwas einfach nicht mag. Zum Beispiel Spinat. Oder Zwölftonmusik. Man muss ja nicht alles mögen. Eigentlich wollte ich nichts zu dem Stück schreiben.

Aber man kann sich trotzdem die Mühe machen und fragen, warum man etwas nicht mag. Ist es der eigenartig stumpfe Geschmack am Spinat, oder ist es, weil er so labberig im Mund liegt und oft kalt ist, wenn er etwas länger auf dem Teller liegt? Wenn man sich das dann so fragt, kann es passieren, dass man eine Idee bekommt, wie man ihn anders zubereiten könnte oder dass man ihn mit bestimmten Zutaten kombinieren könnte. Es kann sich also lohnen, über das „gefiel mir nicht“ hinauszudenken.

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Viel Lärm um nichts

(Obwohl für den Lärm auf dem Münsterplatz lieferte die Nationalmannschaft vier sehenswerte Gründe)

Vielleicht hatte Shakespeare so überlegt: Nehmen wir mal das dümmste Liebespaar, das beim ersten Anblick zusammenklebt und dann nehmen wir das superschlaue Paar, das sich vor lauter Selbstverliebtheit immer weiter abstößt. Für die einen machen wir ein paar Intrigen, sodass die Hochzeit versemmelt wird, für die anderen ersinnen wir eine List, die sie gegen ihren Willen an den Altar führt. Dazu ein Haufen spitzzüngiger Dialoge, ein bisschen Romantik und ein Happy End – fertig ist der Schenkelklopfer.

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Der ideale Mann

Ha, Ha. Dreimal kurz gelacht.

Tatsächlich habe ich gar nicht gelacht, sondern nur zweimal geschmunzelt. Das ist natürlich eine schwache Ausbeute für eine Komödie. Wobei ich mich nicht beklagen will, ich wurde insgesamt gut unterhalten. Das Stück von Oscar Wilde verhandelt das Geschlechterverhältnis in einer Weise, in der auch der heutige Zuschauer Bezüge zur Gegenwart finden und Gewinn daraus ziehen kann.

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Jeder stirbt für sich allein

Und welche Postkarte schreibst Du?

Nun hat also die neue Spielzeit begonnen. Das heißt, für mich begonnen, denn angefangen hat sie schon vor ein paar Wochen. In der Coronazeit werden die Premiereabonnenten nur in Kleingruppen über Wochen in die Aufführung gelassen, meine Termine gehören zu den späteren. Einen Vorteil hat’s, man kann wie in der First Class im Flugzeug die Beine schön ausstrecken.

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Hermann der Krumme

Coronatheater

Foto: Ilja Mess

Nach einer guten Stunde erlöschen die Scheinwerfer und coronaabstandsbedingt tröpfelnder Applaus schwillt an. War das alles? Das Stück hat doch noch gar nicht richtig begonnen? Ganz zu Ende ist es tatsächlich nicht, denn der Chor gibt noch eine, vermutlich geplante, Zugabe. Dafür gibt es Zusatzapplaus, völlig zu Recht, denn der Gesang der Männer und Frauen von der Münstermusik Konstanz in den schwarzen Gewändern und der Kinder mit den weißen Hemden und den schwarzen Hosen ist ein Highlight der Aufführung. Leider können einen die Choräle nicht ganz in die Stimmung des tiefen Mittelalters um 1050, die Zeit Hermanns ziehen. Polizeisirenen und Touristengeschnatter dringen deutlich in den licht bestuhlten Zuschauerraum.

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Wein und Brot

…gibt’s nur daheim

So schnell kann es gehen. Am Donnerstagmorgen hatte ich entschieden, wegen des Coronavirus‘ nicht in die Premiere von Wein und Brot zu gehen und dachte, ich müsse das vielleicht begründen, denn man wird schnell als panisch verlacht. Zwei Tage später sieht alles ziemlich anders aus. Wer will, darf gerne lesen, was ich mir am Donnerstag zurechtgelegt hatte. Was mir vorgestern noch neu war, ist nun bald Allgemeingut.

Foto: Ilja Mess
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