Wie das Konstanzer Publikum mit einem Skandalthema geschockt wird
Drei Wochen vor der Uraufführung hatte ich den ersten Artikel im Südkurier über das Stück gelesen. Der Überlinger Hänselevater hatte es abgelehnt, dem Theater ein Häs zu leihen, und zwar, „weil er das Hänsele davor bewahren wollte, das mit ihm die Rüstungsindustrie schlecht geredet werde“. Diese Begründung war der Lokalredaktion einen Artikel wert. Es gab noch weitere Beiträge, auch im Seemoz, einen Vortrag des Friedensaktivisten Jürgen Grässlin im Theater und eine Demonstration vor dem Werksgelände der Firma Diehl Defence in Überlingen. Also reichlich Presse und Aktivität im Vorfeld – das macht natürlich neugierig.
Für mich als Informatiker ist die Rüstungsindustrie ein Thema, zu dem man sich Gedanken macht. Ich erinnere mich noch an die Studienzeit in den 70er Jahren, da gab es beispielsweise ein Seminar „Informatik und Gesellschaft“, das ich besucht hatte; Berlin war damals in politischer Aufbruchsstimmung. Es war, glaube ich, ziemlich langweilig. Irgendwie war klar, dass man in der Rüstungsindustrie nicht arbeiten kann, da gab es nicht viel zu reden. Und dass man als Informatiker bei anderen Arbeitgebern die Aufgabe haben würde, Arbeitsplätze wegzurationalisieren, war auch keine berückende Perspektive. Viel zu erzählen hatten die Dozenten nicht, jedenfalls nichts, was ich mir gemerkt hätte. Heute finde ich, dass jeder so Dinge wie den Unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik kennen und man sich als junger Mensch intensiv damit auseinandersetzen sollte.
Vielleicht würden diese Themen in dem Theaterstück von Annalena Küspert, die in Überlingen aufgewachsen ist, als Drama auf die Bühne kommen, so meine Hoffnung. Der Inhalt ist schnell erzählt. Das Wasser des Bodensees ist eines Tages schwarz, und zwar überall, in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Aus irgendeinem Grund fällt der Verdacht auf die Rüstungsfirma in „Unterlingen“, also die Firma Diehl. Es entwickelt sich eine Protestbewegung gegen die Firma, wobei der Protest aber nichts mit dem schwarzen Wasser zu tun hat, sondern damit, dass die Produktion und der Verkauf von Waffen verwerflich sind. Der Geschäftsführer der Firma entfacht dann einen Brand, um den Protest zu diskreditieren und damit endet das Stück. Reichlich unvermittelt eigentlich, ich dachte, dass es da erst richtig losginge.
Aber es geht Küspert in dem Stück, dass sie eigens für unser Theater geschrieben hat, vermutlich gar nicht um die Handlung, sondern darum, zu zeigen, wie sich die handelnden Personen zu der moralischen Frage verhalten. Da ist zunächst die Hauptperson, die Schülerin Saliha, die trotz ihres arabischen Namens wohl deutschstämmig sein soll und sich von einer etwas naiven Youtube-Influenzerin zu einer Friedensaktivistin entwickelt. Auslöser ist ihre Großmutter, die, wie bei den antiautoritären 68ern nicht unüblich, mit Vornamen, also Gerti, angeredet wird. Sie hat ein Kriegstrauma und sie ist es auch, die eine Verbindung vom schwarzen Wasser zu dem Rüstungsunternehmen zieht. Dann gibt es Jan, Salihas Freund, der eigentlich nur an Saliha interessiert ist und sich vor allem auf die gemeinsame Australienreise freut. Daraus wird aber nichts, denn Saliha trennt sich von ihm. Politisiert, wie sie nun ist, versteht sie ihn nicht mehr. Und dann gibt es natürlich den Oberschurken, das ist Jans Vater, der den leitenden Posten in der Firma hat. Erst gibt er sich ganz nett, schenkt Saliha seinen alten, coolen Rucksack, aber nach und nach merkt man, dass er ein ganz Schlimmer ist und seine Ausführungen zu den tollen Arbeitsplätzen und dass die Waffen nur der Verteidigung dienen, nur Gerede ist. Er reitet zu Fasnacht auf einer Raketenattrappe und bestellt zur Eröffnung der neuen Fabrikhalle eine Torte in Form einer Kanonenkugel. So einer ist das. Dann gibt es die Oberbürgermeisterin, eine dümmliche Karrierefrau, die affektiert in ihrem hübschen Kleid umherstolziert und ihrem Adlatus Ulrich jeden Handlungsschritt in den Bleistift diktiert. Dann noch zwei alberne Wissenschaftler, die nichts auf die Reihe bekommen und sich am Ende bestechen lassen und eine Reporterin, die zuerst eher klatsch- und tratschmäßig unterwegs ist, sich später mit der von Saliha gegründeten Bewegung solidarisiert und mehr auf Haltungsjournalismus macht.
Die Figuren sind alle klar gezeichnet, sehr klar, also ganz glasklar. Da gibt es keinen Zweifel, wer gut ist und wer böse. Auch auf kleinste Nuancen wird verzichtet, der leichteste Hauch von Vielschichtigkeit wird kunstvoll vermieden. Wie man liest, soll sich das Stück vor allem an Jugendliche richten, und ich vermute, Küspert hatte Sorge, das Zielpublikum könnte verwirrt werden, wenn eine ihrer Figuren leichte Anzeichen von Widersprüchlichkeit zeigen würde. Wie soll man sich auch in der Welt zurechtfinden, wenn man nicht jeden sofort und eindeutig in eine von zwei Schubladen stecken kann? Am Ende geriete man womöglich noch in Zweifel und gar noch über sich selbst. Das kann schließlich nicht Aufgabe von Theater sein! Theater muss den Menschen ein korrektes Weltbild vermitteln, je deutlicher, desto besser – so etwa stelle ich mir Küsperts Gedankengänge vor.
Ein Stück also mit simpelster Schwarzweißmoral und Klischees als Personen – ich denke, dafür hat man das schöne deutsche und unübersetzbare Wort Kitsch. Sozial- und Gesellschaftskitsch vom Feinsten, so subtil wie der röhrende Hirsch über der Sitzecke oder der Zwerg im Vorgarten. Ein Figurenentwurf auf dem Komplexitätslevel von Rotkäppchen. Sogar das mit Oma und Enkelin passt, nur dass der Jäger, als Teil der arbeitenden Bevölkerung bei den Grimms zu den Guten gehört. Bei Küsperts sind die arbeitenden Personen alle böse oder trottelig. Und der Oberschlimme: natürlich ein alter, weißer Mann. Man sollte dessen Verdienst nehmen und damit Flüchtlinge im Mittelmeer retten, meint Saliha, womit auch dieses Thema eingebettet war. Nur Klima fehlte noch, da müsste Küsperts noch etwas nacharbeiten.
Auf die Schwächen des Plots lohnt es nicht weiter einzugehen. Allein die Vorstellung, dass der Bodensee schwarz wie Tinte ist („überall, im ganzen See“) und das zu nichts anderem führt, als dass die Menschen merken, dass es am Bodensee Rüstungsindustrie gibt, ist abstrus. Zusammen mit vor Schmonzes triefenden Rollen stellt sich für die Schauspieler eine ziemliche Herausforderung. Unser „Stammpersonal“, Peter Posniak, Ralf Beckord, Thomas Ecke und Jana Alexia Rödiger macht das souverän. Sarah Siri Lee König als Saliha hat zwar das passende Alter, aber ich fand sie nicht überzeugend. Das wäre aber tragbar gewesen, wäre da nicht Friederike Drews. Ihr Spiel war so gekünstelt, dass ich mich fragte, was sie wohl beruflich macht. Immer wieder zog sie das Niveau auf Schultheater-AG herunter, es war zum Fremdschämen. Dass das zum Inhalt passte, macht es leider nicht besser.
Es war auch etwas gut, nämlich das Bühnenbild für das Steffi Rehberg verantwortlich zeichnet. In rascher Folge werden weiße Möbel auf Rollen von links auf die Bühne gerollt und gehen nach rechts ab. Das bringt Schwung in die Sache und füllt mit minimalen Mitteln den ganzen Raum.
Alles in allem aber eine kindische Veranstaltung. Wenn es für Kinder sein soll, sollten die Verantwortlichen die Altersangabe von „ab 14“ ändern in „bis 14“, dann ginge das in Ordnung.
Eigentlich müsste ich nach diesen doch etwas kritischen Anmerkungen vom Besuch des Stücks abraten. Aber vielleicht auch nicht, aus zwei Gründen. Zum einen: Möglicherweise gefällt es ja dem Leser. Immerhin war das Konstanzer Premierenpublikum sichtlich begeistert. Zum anderen spiegelt das Stück durchaus unsere Gesellschaft. Politik ist heute immer weniger das Austarieren von gegensätzlichen Interessen im demokratischen Diskurs, sondern der Kampf des Guten gegen das Böse, des hellen gegen das dunkle Deutschland. Bis in die Familien hinein wird der Streit getragen, und das ist ganz im Sinne von Annalena Küspert, die im Südkurier vom letzten Donnerstag den Wunsch äußert, Schulklassen sollten das Stück besuchen und Söhne (!) sollten ihre Väter (!) befragen und „ein Familienstreit wäre ein erster Schritt“. Auf welchen Weg dieser erste Schritt führen soll, weiß ich nicht, folgen will ich ihm jedenfalls nicht.