Nicht gewollt, sondern gekonnt
Die neue Spielzeit hat mit einer brillanten Aufführung begonnen. Wer der Kunstfertigkeit einer großartigen Schauspielerin beiwohnen will und eineinhalb Stunden vor ungewohnter Kulisse bestens unterhalten werden möchte, der sollte sich Renate Winkler in der Christuskirche anschauen. Ich kann es uneingeschränkt empfehlen.
Das Stück von Dario Fo erzählt das Leben und Wirken des heiligen Franz von Assisi. Ich weiß nicht, ob alle Geschichten, die Dario Fo erzählt, eine faktische Grundlage haben. Etliches ist verbürgt oder etablierte Legende, entnehme ich der Internetsuchmaschine meiner Wahl. Die Zuspitzung des Franziskus als Rebell, der gegen die weltliche und kirchliche Obrigkeit, aber auch gegen die Dummheit und den Aberglauben des einfachen Volks mit Mut und Witz ankämpft, trägt ganz die Handschrift des Autors.
Winkler erweckt die Figur überzeugend zum Leben. Aber nicht nur diese, sondern auch alle anderen, wie den Wolf, den Papst, den Kardinal, Maria, Jesus und einige mehr. Fast ohne Requisiten wechselt sie die Rollen in rasantem Tempo, ohne dass man als Zuschauer jemals unsicher wäre, wen sie gerade verkörpert. Doch nicht nur die Rollen wechselt Winkler virtuos, sie bewegt sich kontinuierlich auf einer von drei Ebenen. Als Erzählerin berichtet sie von den Taten des Heiligen, als Schauspielerin schlüpft sie in die Rollen ihrer Figuren und als Gauklerin verzaubert sie die Zuschauer, die in den Bänken der Kirche sitzen und zieht sie in das Stück hinein. Wenn sie sich zu den Zuschauern setzt und diese als Hochzeitgäste anspricht, die Frau in der Bank vor ihr als wunderhübsche Braut lobt oder einem Zuschauer dankbar die Glatze küsst, versetzt sie die Zuschauer in das Italien des Mittelalters.
Es ist ein gelungener Coup, das Stück in die altkatholische Kirche mit ihrer Rokokopracht zu verlegen. Unter der Regie von Alex Krauße ist es den Verantwortlichen gelungen, den großen Raum von allen Seiten zu bespielen. Wenige Requisiten sind von Ali Demir strategisch im Raum verteilt. Trotz der heiklen Akustik ist die Schauspielerin immer gut zu verstehen. Gegen die Kälte haben die Theaterleute ein paar Decken ausgelegt, wer zum Frieren neigt, dem empfehle ich warme Kleidung.
Was ich immer gerne mache, ist, auf Youtube in Aufführungen von anderen Spielstätten zu spickeln. Bei der Suche nach Fos Geschichte findet man auch einige sehr eindrucksvolle Aufführungen. Das Stück ist vermutlich ideales Material für einen ausdrucksstarken Schauspieler. So wie Winkler eben. Sie spricht mit vielen Stimmen, spielt Flöte und Querflöte, singt, schreit und zeigt akrobatischen Einsatz, der umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass die Künstlerin schon in einem reiferen Alter ist. In der Reihe der Interpretationen, die man im Netz findet, kann die Konstanzer Inszenierung locker mithalten, so mein Eindruck.
Und noch etwas zum Abschluss. Schon oft fand ich es fragwürdig, wenn unser Theater Männerrollen von Frauen spielen lässt und umgekehrt. Ich erinnere mich noch an Johanna Link im Schweijk, die sich unentwegt am nicht vorhandenen Skrotum kratzte, ohne dass es ihr gelang, den behäbigen Soldaten darzustellen. Das ist so gewollt und verquer wie die Idee mit Gendersternchen die Welt verbessern zu wollen. Bei Winkler kann man sehen, wie es geht. Nicht für den Bruchteil einer Sekunde schleicht sich Zweifel ein, dass sie Franziskus ist, nichts wirkt gewollt, sondern alles ist gekonnt.