Oliver Welke, ZDF: Impfverweigerer sind leider irgendwie asozial
Rainer Stinner, FDP: Impfgegner sind gefährliche Sozialschmarotzer
Fangen wir mit dem Positiven an. Bühne, Kostüme, Musik und Videoanimation sind erneut großartig. Alles Grau bis auf die roten Socken der Schauspieler, leere Bühne nur in der Mitte ein kreisrundes Loch. Und dieses Loch wird ideenreich und kreativ bespielt, sei es als Verhörraum, sei es als Öffnung in ein Spiegelkabinett, sei es als Hamsterrad – immer neue Variationen überraschen die Zuschauer. Beeindruckend schon das Intro, wenn die vier Schauspieler gegen die Bühne projiziert werden und eine Party mit gefühlt dutzenden von Tanzenden simulieren. Großes Kompliment!
Doch dann kommen die Schauspieler auf die Bühne und eine Tristesse beginnt, die zwar zu dem Grau in Grau auf der Bühne passt, mich aber zu keinem Zeitpunkt zu packen vermag. Selten kommt die Illusion auf, einer realen Person in einem Geschehen zuzuschauen, meist sind es nur vier Schauspieler, die Sätze sprechen, die nicht zu ihnen passen. Nur manchmal blitzt wirkliche Schauspielerei durch, aber eben viel zu selten.
Warum ist das so? Ich denke, eine fragwürdige Regieentscheidung trifft auf Unvermögen, sie umzusetzen. Ich spreche von postdramatischer Inszenierung. Dabei will ich nicht den Eindruck erwecken, über tiefere theaterwissenschaftliche Kenntnisse zu verfügen, aber dieser Begriff ist mir schon bei Jelineks Licht im Kasten vor ein paar Wochen begegnet. Man erkennt ein postdramatisches Stück beispielsweise daran, dass im Programmheft die Rollenzuweisungen fehlen. Es heißt dann nicht: Katharina Blum: Hanna Eichel, Kommissar: Sebastian Haase und so weiter, sondern nur noch: Mit Hanna Eichel, Sebastian Haase und so weiter. Die Schauspieler schlüpfen nicht mehr in vorbereitete Rollen und verkörpern sie, sondern: was eigentlich? Das postdramatische Theater wird uns wohl noch häufiger begegnen und wir werden Gelegenheit haben, dieses Konzept zu studieren. Ich habe allerdings nicht viel Hoffnung, dass ich Gefallen daran finden werde. Gerade dieses In-die-Rolle-schlüpfen gefällt mir, ich mag deshalb auch szenische Lesungen besonders, denn da gehen die Schauspieler immer wieder in die Rolle rein und raus und es ist faszinierend zu sehen, wie simpel die Kniffe sein können, mit denen dies den Schauspieler gelingt und wie wirkungsvoll diese sind.
Hier, bei Katharina Blum, lautet die Regieidee, dass die Rollen etwa alle fünf bis zehn Minuten gewechselt werden. Jeder der vier Schauspieler ist mal Katharina Blum, mal herablassender Kommissar, mal zärtlicher Terrorist, mal schleimiger Journalist, mal hinterlistiger Politiker. Das soll laut Regisseurin Franziska Autzen zeigen, dass jeder so wie Katharina Blum zum Opfer einer medial inszenierten Kampagne werden kann. Wie überflüssig! Es ist doch für jeden offensichtlich, dass Böll genau das mit seiner Geschichte ausdrücken will.
Aber nun, die Regieentscheidung ist das Eine, die Umsetzung das Andere. Dabei kann es natürlich gewollt gewesen sein, dass die Schauspieler nicht schauspielern. Dass sie gewissermaßen die Vorgabe perfekt umsetzen. Dann verstehe ich nicht, wen das monotone Einerlei von lauter sich ähnelnden Szenen ansprechen soll. Vielleicht hatte man aber auch geplant, dass die Schauspieler immer wieder blitzschnell die Rollen glaubwürdig zum Leben erwecken. Dann hätte man sich zu Beginn fragen sollen, ob so etwas überhaupt funktionieren kann oder ob so etwas von den Schauspielern umgesetzt werden kann. Vielleicht hat man die Schauspieler vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Wie auch immer, dass unsere Schauspieler auf der Bühne glänzen können, haben sie früher schon bewiesen.
Und damit zum Inhalt: Das Stück zeigt, wie eine junge Frau zufällig in die Mühlen von Politik, Behörden und Presse gerät und daran zerbricht. Sie hatte mit einem gesuchten Terroristen die Nacht verbracht, wird verhaftet, verhört und von der sensationslüsternen Presse mal als Nutte, mal als Nonne verhöhnt. Das Thema hat uns heute sicherlich auch noch was zu sagen, auch wenn sich die Umstände gewandelt haben. Nicht mehr „Rechts“ setzt die Maßstäbe, sondern „Links“ prägt den Zeitgeist, zur Presse ist das Internet getreten und vom Aufbruch- und Freiheitsdenken der 60er- und 70er-Jahre sind wir heute Lichtjahre entfernt.
Es geht um die Macht oder Gewalt der Worte und was sie anrichten können. Eigentlich ein brandaktuelles Thema. Heute würde eine Katharina Blum zwar nicht als linke Terroristin angeprangert. Das Thema ist dermaßen abgeräumt, dass sogar ein Bundespräsident die Terroristin Gudrun Ensslin also große Frau der Weltgeschichte in eine Reihe mit Rosa Luxemburg, Hildegard von Bingen oder Hannah Arendt stellt, ohne dass ihm oder seinem Mitarbeiterstab dabei etwas komisch vorkommt. Eher kann es passieren, dass heute jemand ohne Prozess und Gehör unter dem Hashtag #metoo gesellschaftlich gerichtet oder ein ungeimpfter Sportler öffentlich umerzogen wird. Demnächst stürzt sich die mediale Meute vielleicht auf russische Künstler. Für diese Prozesse hätte das Theaterlicht sensibilisieren können. Doch die Aufführung mit ihrem dahintrabenden Grau konnte dem Gegenstand keine Farbe einhauchen.