Königin Lear

Ohne die Waffen einer Frau

Der Vorteil des Banausentums liegt darin, Kunst unbelastet von Vorwissen genießen zu können. König Lear kannte ich bis zum Besuch der Aufführung in Konstanz nur vom Titel her und ich hatte auch darauf verzichtet, mir die Zusammenfassung in der Wikipedia anzulesen. In mir schwang darum etwas Sorge, ob ich der Aufführung würde folgen können, ohne den Stoff des Originals zu kennen.

Die Sorge war unbegründet. Die Adaption des Antwerpeners Tom Lanoye entwickelt die Handlung rund um die Erbschaft des Mischkonzerns schnörkellos und schon nach kurzer Zeit fiebert man dem Geschehen entlang. Königin Lear ist ein eigenständiges Stück, das ohne Bezug zu Shakespeares Werk funktioniert.

Was den Theaterabend zu einem Erlebnis werden ließ, war der Bühnenaufbau und die grandiose Katrin Huke. Wobei Bühnenaufbau mehr meint als die Gestaltung des Bühnenraums. Es ist die Summe aus Bühne, Beleuchtung, Ton, Musik und zu kleinerem Teil auch Kostüm, die einen imposanten Rahmen schafft, in dem sich die Schauspieler entfalten können. Aber so bemerkbar und bemerkenswert die multimediale Inszenierung ist, die von Iris Kraft, Felix Rösch, Simon Carl Köbe und Alexia Engl geschaffen wurde – nie drängt sie die Schauspieler in die zweite Reihe, immer behält sie ihre unterstützende Funktion. Regisseur Kristo Šagor versteht offensichtlich sein Handwerk.

Schon der Einstieg fasziniert. Wobei, bevor es losgeht, nachdem die Türen geräuschvoll geschlossen wurden, tritt eine Frau an die Rampe. Wie verloren wirkt sie in der rechten unteren Ecke am Fuße des großen roten Vorhangs. Wird das jetzt ein gewollt-unkonventioneller Einstieg? Oder kommt doch die Aufforderung, die Masken vors Gesicht zu schnallen? Nein, die Ansage lautet, dass Burkhard Wolf seine Rolle als Robert Kent nicht spielen kann und kurzfristig Sebastian Haase einspringen musste. Man möge kleine Fehler verzeihen, sollte das wohl heißen. Ein völlig überflüssiger Hinweis, der nur dazu führte, dass man längste Zeit kritisch auf Haase schaut und auf Patzer wartet, die dann nicht kommen. Überhaupt bot Haase neben Huke die zweite großartige schauspielerische Leistung.

Doch zurück zum Vorhang, der auch geschlossen bleibt, als man von dahinter einen dunklen Singsang vernimmt. Und als er sich langsam steigert, bleibt der Vorhang immer noch geschlossen, sodass man genauer auf dieses riesige Stück festen Stoffs zu starren beginnt und erlebt, wie sein Rot im Licht der Scheinwerfer anfängt zu leuchten. Und als er dann, leider nicht geräuschlos (da könnte man mal investieren!), zur Seite gleitet, gibt er den Blick frei auf den an vier Drahtseilen aufgehängten Schwebeboden, der neben einem Sitzkissen die einzige Ausstattung der Bühne ist. Aber was für eine! Ob auf dem Boden, als Landschaft liegend, ob als Rampe, ob auf Schulterhöhe, als Kellerdach, ob senkrecht stehend als Hochhausdschungel oder ob auf Hüfthöhe wie zu Beginn als Konferenztisch, an dem der Aufsichtsrat tagt, stets ist er ein Hingucker.

Und auf diesem Tisch steht Katrin Huke im blauen Hosenanzug und High Heels und verhandelt mit ausladenden Gesten ihr Vermächtnis. Sofort drängt sich mir das Bild von O-Ren Ishii auf, der Chefin des Yakuza-Clans, die ebenso herrschend auf dem Konferenztisch wandelt und in Tarantinos Epos „Kill Bill“ dem unbotmäßigen Boss Tanaka mit dem Schwert den Kopf abschlägt und mit dem blutenden Kopf in der Hand ihre Machtposition festigt, derweil aus dem Rumpf zuckend das Blut spritzt. Tarantino eben.

Der Leser verzeihe mir die kleine Abschweifung. Aber, dass sich der Vergleich aufdrängt, bestätigt nur, wie überzeugend Huke ihre Rolle als zuerst narzisstische und später zunehmend verrückt werdende Herrscherin spielt, oder besser: Schreit, tanzt, brüllt, lacht, wimmert und kreischt. Und ihre Monologe mischen neue Texte von Tom Lanoye mit solchen von Shakespeare, ohne dass man einen sonderlichen Bruch merken würde. Chapeau!

Ihr Schicksal, das Lebenswerk an die Nachkommen zu übergeben, und zu erleben, dass diese unfähig sind, es zu verwalten, und zu merken, wie einsam sie letztlich ist und daran verrückt zu werden, dieses Schicksal ist heute eher ungewöhnlich. Wie der Soziologe Michael Hartmann in dem im Programmheft abgedruckten Gespräch betont, sind Konzernvererbungen im Familienkreis selten geworden, nur in Deutschland mit den noch vielen mittelständischen Unternehmen gibt es das manchmal.

Doch auch, wenn es nur um den Handwerksbetrieb, das Weingut oder das Ferienhaus am Bodensee geht, hört man es nicht selten, wie die noch notdürftig zusammengehaltene Familienbande im offenen Hass zerbricht. Es ist und bleibt die hohe Kunst des Lebens, mit den Menschen, mit denen das Schicksal einen zusammengebracht hat, in Liebe zu leben. Eine krankhafte Persönlichkeit wie Königin Lear führt am Ende alle in den Abgrund.

Tom Lanoye hat mit seiner Adaption ein spannendes Experiment gewagt. Was passiert, wenn man den Stoff aus dem späten Mittelalter ins einundzwanzigste Jahrhundert verlegt und die Geschlechter von Herrscher und Kindern tauscht? Die zeitliche Verschiebung geht problemlos auf. Was früher ein Königtum war, ist heute eher ein Konzern. Nationalstaaten eignen sich nicht mehr, um Machtgelüste auszuleben, auch wenn wir heute einem Krieg zwischen zwei europäischen Staaten beiwohnen. Die demokratische Verfasstheit der Staaten hegt die Akteure ziemlich ein, auch wenn uns zwei Jahre Pandemieregime gezeigt haben, dass Grundrechte nicht unverrückbar sind. Internationale Großkonzerne im Verbund mit überstaatlichen, nicht demokratisch legitimierten Institutionen sind das Spielfeld der heute Mächtigen. Insofern gefällt mir die Übertragung. Lediglich die feindliche Übernahme mit ihren Finten und Winkelzügen hätte detaillierter behandelt werden können.

Die andere Übertragung zeigt dagegen die Grenzen des Möglichen. Es beginnt schon bei Lears Aufforderung an die Söhne, ihre Liebe zu ihr zu bezeugen. Während die Tochter im Vater sehr wohl den Herrscher verehren kann, ohne dass es seiner Vaterrolle Abbruch tut, ist es beim Sohn zu Mutter verwunderlich, Fürsorge und Schutz bestenfalls im Nebensatz zu hören. Man kann trefflich darüber streiten, was männliche und was weibliche Eigenschaften sind, aber nur wenn man Unterschiede zwischen diesen weitgehend leugnet, kann man die Rollen beliebig tauschen. Doch wozu dann den König zur Königin machen?

Der Rollentausch nimmt den Konflikten ihre geschlechtertypische Färbung. Almas Kinderlosigkeit bleibt eine Randepisode im Zickenkrieg der Angeheirateten. Vielleicht ist das der Grund, dass Thomas Fritz Jung, Ioachim-Wilhelm Zarculea, Miguel Jachmann, Nancy Mensa-Offei und Maëlle Giovanetti alle blass bleiben in ihren Rollen, obwohl sie nicht sichtbar schlecht spielen. Vielleicht ist es aber auch nur der übergroße Schatten der Katrin Huke und der Königin Lear.

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