KARL!

Gänsehaut

Tatsächlich konnten einige der rund hundert Zuschauer die Tränen nicht unterdrücken und irgendwann musste vermutlich jeder einmal etwas fester schlucken. Als nach der Premiere alle Mitwirkenden auf die Bühne kamen, war für die Regisseurin Susanne Frieling kein Halten mehr, sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

Es nennt sich Stückentwicklung, was Frieling und die Dramaturgin Hannah Stollmayer auf die ausverkaufte Werkstattbühne gebracht hatten. Sie hatten ein Thema identifiziert, recherchiert und daraus ein Theaterstück entwickelt. Es geht um sogenannte Schattenkinder, Kinder deren Schwester oder Bruder behindert ist und die in deren Schatten aufwachsen. Aus Gesprächen mit diesen Jugendlichen ist ein Text entstanden, in dem es vor allem um Verantwortung und Freiheitsdrang, aber auch um Liebe und Beziehungen geht.

Dem Team und vor allem dem einzigen Bühnenschauspieler, Miguel Jachmann, gelingt es, den im Grunde sachlichen Texten Leben einzuhauchen. Dabei spielt Jachmann keine Rolle, wie es im Theater üblich ist. Der Auftritt ähnelt mehr einer Lesung, obwohl auch das nicht ganz zutrifft. Jachmann, der auch im Stück Miguel heißt, erzählt nach der Einstiegsszene seine eigene Lebensgeschichte, wie er nach dem Abitur zur Schauspielerei kam und wie es ihn schließlich nach Konstanz verschlug. Er bleibt, auch wenn er die Texte der interviewten Jugendlichen spricht, immer zugleich er selbst. Selbst wenn er gleichzeitig Vater, Mutter und Sohn spielt, ändert sich seine Stimme und sein Auftreten nicht. Auf eigenartige Weise stehen trotzdem die Jugendlichen, um die es geht, mit großer Präsenz vor dem Publikum. Nur einmal zeigt Jachmann Gefühle auf der Bühne, nämlich dann, wenn er sich ans Klavier setzt und ein Lied von Elvis Presley singt.

Es ist auch die geschickte Verschränkung von Realitäts- und Spielebene, die die Zuschauer eineinhalb Stunden festhalten. So druckt Jachmann aus einem kleinen Computerdrucker eine Seite mit Fragen aus, die er dem Publikum stellt. „Haben Sie schon mal über Pränataldiagnostik nachgedacht?“ „Kennen Sie jemanden, der ein behindertes Geschwisterkind hat?“ Als Antwort zu diesen Fragen stampfen die Zuschauer mit dem Fuß. Anfänglich sehr klar und deutlich, später verebbt das Stampfen mehr und mehr. Vielleicht ist dem einen oder anderen die Antwort peinlich. Jedenfalls sitzt einem danach das Thema auf den Schultern.

Dazu kommt dann irgendwann die Filmebene: Eine weiße Leinwand erstreckt sich über die gesamte Rückwand der fast leeren Werkstattbühne. Der erste Filmeinsatz ist ein Hammerschlag. Zu laut stampfender Techno-Musik schaut einen überlebensgroß das ernste Gesicht Jachmanns an. Danach ist klar, dass auch die Leinwand und ihre Filme Mitspieler in dem Stück sind. Im Laufe der Aufführung verschmelzen Bühne und Film. Gegen Ende entfaltet der Film eine Geschichte, in der auch der Bruder auftritt. Karl wird dargestellt von dem behinderten Schauspieler Andy Böni vom Zürcher Theater Hora. Es ist anrührend, wenn Karl seinem Bruder Miguel das Jodeln beibringt. Doch der Erzählmodus und die Rollen werden schnell verlassen, wenn die Kameraleute, Regie und Technik sich selbst ins Bild bringen und zeigen, wie sie sich über die gelungene Aufnahme freuen. Es ist die immer wieder hergestellte Distanz zum Text, die diesen umso stärker macht.

Doch es ist nicht nur das Spiel auf der Bühne und im Film allein, das den Zuschauern nahegeht. Es ist das Thema selbst. Hier geht es nicht um die üblichen Aufreger aus den medialen Blasen, Stichworte: Winnetou, Mohrenapotheke. Hier geht es nicht um das Schicksal von Menschen in der Ferne, sondern um das, was um uns herum geschieht. Jeder weiß um behinderte Kinder, jeder Vater, jede Mutter stand vor der Frage, was sie im Falle einer Kindesbehinderung tun würden. Und familiäre Fürsorge muss man nur ein klein wenig weiterdenken, nämlich an unsere Alten und Pflegebedürftigen denke, um die Dimension der Sache zu erahnen.

Die jungen Stimmen im Stück stellen Fragen und stellen sich den Fragen noch sehr direkt. Welche Verantwortung habe ich? Soll ich auf mein Leben verzichten, um mich um meinen Bruder zu kümmern, wenn Vater und Mutter nicht mehr können? Warum erwartet man von der Familie, dass sie selbstverständlich für das behinderte Kind da ist? Warum werden Pflegekräfte bezahlt, die Familie aber nicht? Die Stimmen geben keine Antworten auf die Fragen, vor allem keine einfachen, aber man spürt, wie ernst es ihnen ist.

Die Frage nach der Familie und der Verantwortung ist vielleicht die wichtigste. Jugendliche wollen und müssen sich lösen, aber am Ende gründen sie meist selber wieder eine Familie. Eine Gesellschaft, in der auch diese schicksalshafte Verbundenheit auf dem Altar staatlicher Fürsorgeeinrichtungen geopfert wird, geht meiner Ansicht nach dem Abgrund entgegen. Sie wird wertlos, weil sie ihre Werte verliert. Die vielbeschworene Wertegemeinschaft entsteht nicht im Individuum und nicht in Talkshows. Sie entsteht dort, wo Menschen miteinander sind und Verantwortung füreinander tragen. Nur dort. Und diese Orte schwinden zusehends.

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