Beziehungsstatus einer 13-jährigen auf Facebook: „Es ist kompliziert“
Diesmal hatte ich die Gelegenheit ergriffen, mir den Preview zu Anna Karenina anzuschauen. Der Preview ist die letzte oder vorletzte Probe vor der Premiere. Als Mitglied im Theaterfreundeverein genießt man das Privileg, diesen Preview besuchen zu dürfen. Dramaturgie oder Regie geben eine kleine Einführung und im Anschluss gibt es ein Gespräch, in dem es vor allem darum geht, wie bestimmte Passagen aufgenommen wurden. Man blickt etwas hinter die Kulissen und lernt dazu.
Nach dem Preview, von dem ich nur die erste Halbzeit gesehen hatte, war ich enttäuscht. Was soll denn so ein Stück? Drei Paare der High Society mit ihren Beziehungsproblemen, Problemen von vor über hundert Jahren, mit denen sich heutzutage Pubertierende herumschlagen? Das Ganze reichlich konventionell vorgetragen. Zu keinem Zeitpunkt hatte mich die Aufführung berührt. Lediglich das hohe Handlungstempo hielt die müden Augen offen.
Wie anders dann die Premiere! Eigentlich hatte sich nichts verändert, aber plötzlich lebte das Stück. Schon die erste Szene markierte den Unterschied. Ioachim-Willhelm Zarculeaals als Lewin betritt mit Schlittschuhen die Bühne und schaut auf wackeligen Beinen ins Publikum. Das heißt, in einen vollbesetzten Saal erwartungsfreudiger Zuschauer. Ausgehungert nach Theater, wenn man so will, wie später Anna sich als ausgehungert nach Liebe bezeichnet. Und die Zuschauer schauen zurück und warten, dass etwas passiert. Und Zarculeaals seinerseits wartet und steigert die Erwartung der Zuschauer. So funktioniert Theater, endlich wieder alte Normalität.
Auch in der Pause und nach der Vorstellung wieder ein Stück Normalität im vollbesetzen und neu gestalteten Foyer. Es soll mehr Platz sein, irgendwie stimmt das auch, aber wenn sich der größere Teil der Gäste an die verkleinerte Garderobe drängt, der andere Teil zum Buffet, wird es für die Plaudernden in der Mitte trotzdem ungemütlich. Wenn sich nach etwa einer halben Stunde die Schlangen aufgelöst haben, verteilt sich der Rest der Gäste sehr übersichtlich auf die drei getrennten, durchaus gemütlichen Sitz- und Stehbereiche. Für die Akustik wurde viel getan, man muss sich nicht mehr anbrüllen.
Aber zurück zum Stück. Auch wenn die Aufführung durchaus sehenswert ist, steckt im Stück ein grundsätzliches Problem. Was wir sehen ist nicht Tolstois Roman, sondern das, was Armin Petras 2008 daraus gemacht hat. Die 1200 Seiten Roman auf 70 Seiten Bühnenfassung zu reduzieren ist natürlich eine Herausforderung und Petras hat es mit zwei Mitteln gelöst. Zum einen lässt er die Schauspieler größere Passagen erzählen, mal in Ichform, mal in dritter Person von sich redend. Mir gefällt diese Form, die Mischung von erzählen und schauspielern, das Schauspiel funkelt immer hell, wenn es anhebt.
Es ist die zweite Entscheidung von Petras die das Problem begründet. Er reduziert den Roman auf die Beziehungsprobleme der drei Paare. Alles über die russische Gesellschaft Ende des 19ten Jahrhundert entfällt ersatzlos. Man könnte denken, und vielleicht hatte Petras so gedacht, dass ohne den Historienballast des großen Gesellschaftsromans der Kern dessen was Liebe ist, umso deutlicher hervortreten würde. Doch das passiert nicht, denn die Steine, die Tolstoi seinen Protagonisten in den Weg gelegt hat und an denen ihre Liebe scheitert oder gelingt, sind nicht in der Liebe selbst begründet, sondern in den Verhältnissen, in denen sie angesiedelt sind, nämlich in der Adelsgesellschaft des russischen Zarenreichs.
Wie sehr die Beziehungsprobleme zeitbedingt sind, spürt man, wenn man versucht, die Geschichten im heute zu denken. Und einige Kleinigkeiten, wie Kittys Kopfhörer und die Erwähnung eines Mobiltelefons legen nahe, dass man das versuchen wollte. Doch welche Frau oder eher welches Mädchen wartet heute mit dem Geschlechtsverkehr bis zur Ehe? Der Ruf welcher Frau wird durch eine Scheidung heute zerstört? Für wie viele Frauen ist heute die Ehe die alles entscheidende Lebensentscheidung? Sexuelle Befreiung, die Pille und Berufstätigkeit der Frauen haben die Verhältnisse, in denen sich Liebe entwickelt, grundlegend verändert. Der Adel als gesellschaftliche Elite ist in die Klatschspalten der Boulevardblätter verbannt und für wen könnte das Liebesleben einer Claudia Roth, Ursula von der Leyen oder eines Armin Laschets Inspiration oder Maßstab sein? Nein, The Times They Are a-Changin‘.
Petras hätte besser was ganz anderes gestrichen, nämlich die zwei anderen Paare und stattdessen das Stück ganz auf Karenin, Anna und Wronski zugeschnitten. Dann wäre es beispielsweise möglich gewesen, zu zeigen, welche Zwänge, Sorgen und Hoffnungen auch Karenin oder Wronski umtreiben und wie diese sich an den gesellschaftlichen Umständen reiben. Mehr Tiefe in den Männerrollen hätte auch Annas Gefühlsleben besser vermittelt.
Für die zwei zusätzlichen Paare reicht einfach nicht die Zeit, ihnen genug Farbe zu verleihen. Ioachim-Willhelm Zarculeaals und Pauline Werner spielen Lewin und Kitty beispielsweise engagiert und durchaus unterhaltsam, es macht Spaß zuzuschauen, aber sie bleiben völlig unglaubwürdig. Nicht für eine Sekunde konnte ich nachvollziehen, wieso die kindliche Kitty für Lewin das Ein und Alles ist. Lewin ist auf der Bühne ohnehin nur ein lächerliches, mitleiderregendes Weichei, dem man unentwegt zurufen möchte: Nun mach mal hinne! Sicherlich hatte Tolstoi das nicht im Kopf. Aber das passiert, wenn das Beziehungsproblem auf die alte Kamelle reduziert wird, dass der Mann den Mut fassen muss, die Frau anzusprechen und dabei Gefahr läuft, sein Selbstwertgefühl zu zerstören und die Frau sich passiv aufbrezeln muss, um zu warten, dass der Gewünschte sie endlich anspricht. Klar, wer Tinderstatistiken kennt, weiß, dass auch die dritte Welle des Feminismus‘ an diesem Prinzip nur wenig geändert hat. Aber um daraus einen wichtigen Teil des Dramas zu stricken, muss man viel tiefer in die imaginierten Ängste und Sorgen eindringen, die eben an den gesellschaftlichen Zwängen und Leitbildern hängen. Auch das Kitty an ihrem Schicksal verrückt wird, bleibt völlig unglaubwürdig. Wie auch die Hinwendung von Dascha zur Religion oder die Flucht von Stefan in den Zynismus.
Was bleibt ist Anna, die von Kristina Lotta Kahlert sensationell verkörpert wird. Sie ist tatsächlich das begehrenswerte Weib, das in der Beziehung zu ihrem Ministermann vertrocknet und, erst einmal vom Rittmeister Wronski verführt, in einen Lebens- und Liebesrausch fällt. Auch Ingo Biermann macht die Zwänge des Alexej Karenin nachvollziehbar, sein Festhalten an der Konvention, seine Sorge um den Beruf und das Auskommen. In ihrem Krankheitsfieberwahn spürt Anna auch noch, dass sie an dieser Sicherheit hängt. Das ist alles nachvollziehbar und übertragbar. Leider bleibt der Dritte im Bunde, Wronski, gespielt von Sven Dolinski, völlig farblos – wie ein beliebiger Gigolo, der Annas Liebeshunger zufällig zum richtigen Zeitpunkt über den Weg läuft. Es fragt sich bei all diesen schablonenhaften Personen, ob der Text von Petras, mit seiner Verhaftung in der damaligen Zeit (ohne diese Zeit auszubuchstabieren), ob dieser Text das Problem ist, oder ob es den Schauspielern nicht gelingt, die Paarbeziehungen lebendig werden zu lassen. Eine Inszenierung an einem anderen Haus würde mich jetzt interessieren. Vielleicht bringt der pro.log am 14. November dazu Erkenntnisse.
Aber Kristina Lotta Kahlert als Anna ist phantastisch und rettet das Stück. Wenn sie sich wie ein ausgehungertes Tier auf Wronski stürzt, oder sich im Krankheitswahn die Seele aus dem Leib schreit, erleben wir Intensität pur. Sehr gefallen hat mir die Idee, ihr Kreisen um sich selbst und ihre Liebe (nach dem Motto: Ich bin verliebt in die Liebe), darzustellen, in dem die Textpassagen gleich mehrfach leicht abgewandelt wiederholt werden. Das verdeutlicht sehr schön, wie Verliebtheit um ihrer selbst willen hohldreht, etwas, das die meisten Zuschauer irgendwann so oder ähnlich erlebt haben dürften.
So ist es nur konsequent, wenn Anna am Ende, vor ihrem Selbstmord, immer wieder hilflos anhebt „Liebe ist…“ und nicht weiß, wie sie den Satz fortführen soll. Liebe ist eben nichts, was man ohne Leben denken kann, sie ist Teil des Lebens, und das Leben ist etwas, dass sich nur in den konkreten gesellschaftlichen Umständen entfalten kann. Nur wer richtig im Leben steht, kann richtig lieben. Wenn sich die privilegierte Adlige von ihren Konventionszwängen befreit, fehlt die Bodenhaftung, die eine Liebe begründen kann. Das ist ihr Schicksal. Es ist sehr sinnig, dass Wronski das letzte Wort hat. Er kratzt gewissermaßen noch knapp die Kurve, und versucht als veränderter Mensch, als Künstler, seinen Weg zu finden.
Normalerweise lobe ich immer das Bühnenbild. Diesmal hat man einfach die Drehscheibe aus dem letzten Stück wiederverwendet. Was bei den „Verlorenen“ Sinn ergab, schien mir diesmal eher wie ein störendes Teil in der Mitte der Bühne. Eigentlich haben die Schauspieler im Wesentlichen um das Hindernis herumgespielt. Etwas eigenartig.
Ein Wort noch zum Programmheft, über das ich mich geärgert habe. Dass das alte Format, das so genau in die Innentasche der Anzugjacke passte, zuungunsten eines A5-Schlabberheftchens aufgegeben wurde, hatte ich schon mal beklagt. Dass wir nun 2,50 € statt einem Euro abdrücken müssen, ist auch nicht schön, aber verkraftbar. Wenn denn der Inhalt es wert wäre! Doch ein Dutzend Zitate irgendwelcher mehr oder weniger bekannter Menschen zum Thema Liebe kann man sich schenken. Geschenkt wäre das Programmheft in Ordnung. Aber geschenkt!