Die Verlorenen

Der Mensch erfolgreich spricht zu anderen nicht

Wenn ich bei gutem Wetter im Garten sitze, schweift mein Blick manchmal Richtung Apfelbaum. Und dann sehe ich dort Äste und Blätter, von denen ich nicht sagen kann, ob sie Teil des Baums oder Teil der nahestehenden Büsche sind. Farbe und Form unterscheiden sich kaum und den Augen gelingt es nicht, einen Unterschied in der Tiefenschärfe zu finden. Doch kaum weht ein Windhauch und bewegt die Blätter, trennen sich Baum und Gebüsch, man sieht die Dinge, wie sie tatsächlich sind.

Ähnlich ist es mit der Handlung in Ewald Palmetshofers Stück von 2019. Er zeigt uns eine Welt von einsamen, verlorenen Menschen, die sich fragen, inwieweit sie überhaupt noch Menschen sind. Und es sind die wenigen Interaktionen, die sich aus der Handlung ergeben, die deutlich machen, wie wenig es den Menschen gelingt, miteinander zu reden.

Auch wenn es bei dem Stück um eine Zustandsbeschreibung geht und die Handlung nur Hilfsmittel ist, sei sie kurz benannt. Clara will sich zurückziehen und geht in das Haus ihrer Großeltern, irgendwo in der Pampa. Ihren 13-jährigen Sohn Florentin lässt sie bei ihrem Ex-Mann Harald und seiner neuen Frau Svenja. Sie hat eine kurze Affäre mit Kevin, die unterbrochen wird, als Harald und Svenja auftauchen und Florentin bei ihr abladen wollen, denn er hat Schlimmes verbrochen und darf nun nicht mehr in die Schule. Soweit die Hauptfiguren. Es gibt keinen Spannungsbogen, kein Drama, keine Entwicklung der Figuren.

Doch es ist beeindruckend und bedrückend, welche Facetten der Einsamkeit gezeigt werden. Clara verkriecht sich in ihr Schneckenhaus. Welches Problem sie eigentlich hat, weiß man nicht. Harald und Svenja spielen sich eine Beziehung vor, die sie nicht haben und bleiben so voneinander isoliert. Florentin hat sich in der Familie zurückgezogen und stellt sich mit seiner rassistischen und sexistischen Gewalttat, die Clara nachhaltig verstört, außerhalb der Gesellschaft. Kevin passt nicht zu den Menschen in seinem Dorf, wird von diesen geschnitten und ist darum allein. Die drei von der Tankstelle, die Wirtin, der alte Wolf und der Mann mit der Trichterbrust wiederholen seit Jahren rituelle Gespräche, die eigentlich bloße Selbstgespräche sind. Und Claras Eltern haben sich eigentlich schon alles in ihrem Leben gesagt, was es zu sagen gab und nur die Sorge um ihre Tochter drängt sich vor ihr Warten auf den Tod.

Die Gelegenheiten, miteinander in Kontakt zu treten, scheitern kläglich. Fast schmerzhaft mit anzusehen, wie Sebastian Haase als Mann mit der Trichterbrust versucht, Clara in der Disko anzumachen, und auf ihre kleine skeptische Reaktion in eine Tirade ausbricht, von der Verachtung der Stadtmenschen für die einfachen Menschen auf dem Lande und über Frauen, die nur sozial höhergestellte Männer beachten. Tja, Clara hat von alledem überhaupt nichts mitbekommen. Sie lebt eben nur in ihrer Welt. Lediglich Kevin gelingt es kurz zu Clara durchzudringen, doch sie fängt schnell mit Sex an, vielleicht nur als Ablenkung.

Palmetshofers Texte sind in einem eigenartigen Duktus verfasst, oft sind Worte gegenüber der üblichen Satzstellung vertauscht. Sätze werden nicht zu Ende gesprochen, angefangene Sätze von anderen Sprechern mit anderem Sinn beendet. Manche Passagen werden rhythmisch kadenziert.  Das ist anfänglich etwas irritierend, aber dann doch sehr passend. Die Schauspieler bekommen diese sperrigen Texte sehr gut auf die Bühne. Überhaupt sind die Schauspieler alle exzellent, keine Rolle fällt ab, man müsste jeden einzeln loben. Gut ist auch die Idee, Florentin nicht mit einem Schauspieler zu besetzen, sondern mit einem Fernseher. Kurios, aber es funktioniert.

Es sind die verstreuten Monologe, von denen die Botschaften des Stückes ausstrahlen. Beispielsweise erzählt Odo Jergitsch als der alte Wolf, von seiner Begegnung mit einem Reh, das er letztlich totfährt, und wie ihn dieses Reh anschaut, so von Tier zu Tier, auf Augenhöhe. Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Es scheint für Palmetshofer die Fähigkeit zum Austausch durch Sprache zu sein. Wo Sprache den anderen nicht mehr erreicht, wird der sechste Tag der Schöpfung zurückgedreht, wie der alte Wolf sagt. Noch an anderer Stellt kommt der religiöse Glaube ins Spiel, nämlich wenn Claras Vater seiner Frau verspricht, im Jenseits auf sie zu warten. Das sind tröstliche Momente im Stück.

Einzig Kevin, der Gemiedene, scheint sich die Fähigkeit bewahrt zu haben, mit anderen in Kontakt zu kommen. Sein Monolog dreht sich um die Sprache, wie sie ausgehöhlt und tot beispielsweise als Politikersprech eindringt und absinkt in die Seelen und diese vergiftet. Passend dazu bringt dann Sarah Siri Lee König als Svenja noch den Gendersprech, die neue, abgehobene Elitensprache, auf die Bühne.

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