Die dunklen Winkel der menschlichen Seele
Wenn man über ein Theaterstück (oder auch Kunst im Allgemeinen) spricht, wird häufig nach einem tieferen Sinn gesucht: „Was wollte uns der Autor damit sagen?“, lautet die meist unausgesprochene Frage. Die Antworten sind oft so etwas wie, dass Menschen korrupt sind, dass der Klimawandel ein Problem oder Populismus gefährlich ist. Also irgendwelche Dinge, die als wichtig angesehen oder als von universeller Bedeutung erachtet werden. Ich frage mich dann, warum der Autor oder Regisseur oder wer auch immer, das dann nicht einfach so sagt. Warum muss man dazu ein Theaterstück aufführen?
Es fühlt sich etwas falsch an, ein Theaterstück auf eine Mitteilungsformel zu reduzieren. Wenn ich es drastisch ausdrücken wollte, würde ich sagen: Wenn man Theater so sieht, versteht man dessen Kern nicht. Und wenn man so Theater macht, ist es ein Jammer. Ich finde, Theater ist zuallererst ein Erlebnis. Film ist auch ein Erlebnis, aber Theater ist besonders, weil man keine Leinwandkonserve sieht, sondern der Inszenierung beiwohnt. Das Vibrieren der Stimmlippen wird von der Luft ins Zittern der Innenohrhärchen übersetzt. Seele knüpft sich an Seele.
Als Erlebnis hat Theater durchaus transformatives Potenzial, wie jedes Erlebnis. Ich bin schließlich nur wenig mehr als die Summe meiner lebenslangen Erlebniskette. Manche Erlebnisse sind dabei nachhaltiger als andere. Wenn ein Theaterstück aber nachhaltig wirken soll, muss es tief in mich eindringen, an etwas anknüpfen, das Teil meiner Persönlichkeit ist. Und dann kann es eigentlich keine plumpe Allerweltsbotschaft sein, sondern muss subtiler, persönlicher sein.
Sicher fragen Sie sich mittlerweile: Wann kommt er denn nun endlich zum Struwwelpeter? Nun jetzt. Mein erster Gedanke war, dass unser Theater hier mit großer Hingabe alles gegeben hat, um einen bunten Sinnenstrauß zu binden. Ein Kostüm-, Bilder- und Formenreigen spult sich vor unseren Augen ab, begleitet von Maëlle Giovanettis düsterem Gesang und der teils schrägen Musik der Viermannkombo rund um Rudolf Hartmann. Das alles umrahmt von dem überragenden Ingo Biermann, der als Conférencier die einzelnen Geschichten des dunklen Buchs ankündigt und kommentiert.
Also ein Bühnenspektakel ohne tieferen Sinn? Einerseits sicherlich. Ich habe mal wieder im Nachgang auf YouTube die Trailer von anderen Inszenierungen angeschaut und gesehen, dass dieses Stück zu so etwas wie einem Wettbewerb in Bühnenbild- und Kostümkreativität aufzurufen scheint. Man glaubt ja nicht, wie viele Möglichkeiten es beispielsweise gibt, das brennende Paulinchen mit Minz und Maunz zu spielen. Ich vermag es nicht einzuschätzen, wo sich unser Theater in diesem Wettstreit der Kostümschneider, Bühnenbauer und Techniker einsortiert, aber ich glaube kaum, dass es die hinteren Plätze sind. Die Idee, den Suppenkasper darzustellen, indem erst drei, dann zwei und dann eine Person in der immergleichen Hose stecken, hatte vielleicht noch niemand zuvor gehabt. Und ein Orchester, das sich so aktiv in die Schauspielerei einmischt, habe ich auch noch nie gesehen. Es sind kuriose Bilder, die in der Bühne auf der Bühne vor unseren Augen entwickelt werden.
Warum eigentlich nicht mal so richtig aus dem Vollen schöpfen und zeigen, was man drauf hat? Beim Endapplaus kamen alle an der Aufführung Beteiligten auf die Bühne. Es wurden immer mehr, es wollte nicht aufhören. Ähnlich wie bei einem Filmabspann fragte man sich, was die Einzelnen wohl um alles in der Welt da gemacht haben könnten. Doch als ich erfuhr, dass alleine zum Umkleiden von Ruby Ann Rawson, die alle Kinderrollen spielt, manchmal drei Helfer im Einsatz waren, schien mir die große Anzahl an Mitwirkenden plausibel.
Auch bei Biermann geht es um das Spielen um des Spielens willen. Auch wenn er immer mal wieder tiefgründige Gedanken zum Bösen in der Welt ausspricht und sogar Shakespeare-Verse rezitiert, hat man nicht den Eindruck, er wolle uns ernsthaft eine Botschaft vermitteln. Vielmehr spielt er – und zwar mit dem Publikum. Schon der Anfangssatz, nämlich, dass er der beste Schauspieler sei, wird mit einer solchen Freude rausgehauen, dass man gleich denkt: Ja, zeig mal, was Du kannst! Es gelingt ihm, die Aufmerksamkeit des ganzen Saals auf sich zu ziehen, auf ein einziges Wort, und jeder Zuschauer wartet gebannt, wie es nach der Sprechpause, die Biermann genau bis zum Kipppunkt ausreizt, weitergehen mag. Am Ende greift er dann offensiv die offensichtliche Frage auf: Was soll das Ganze überhaupt? Und in einem kleinen Wutmonolog kommt er auf den Punkt, dass jeder schließlich genug Dreck vor der eigenen Haustür habe, um darin zu fegen. So richtig wie unpassend zu dem Stück und damit so britisch schräg wie der Humor der Tiger Lillies, die das Stück geschrieben haben.
Dass es doch eine Berührung bei mir gegeben hat, habe ich erst etwas später gemerkt. All das teils höhnische Reden Biermanns, die finstere Gestalt Giovanettis und ihr dräuender Gesang, geben den Geschichten Heinrich Hoffmanns den düsteren Hintergrund, mit denen sich die Geschichten in meiner Erinnerung eingegraben haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Geschichten große Angst bei mir ausgelöst hatten. Wir waren, glaube ich, robuste Kinder, so etwas wie Trigger-Warnungen und Safe-Spaces waren jenseits jeden Denkkosmos. Aber wie jedes Märchen sind die Geschichten mit einer bestimmten Gefühlskonnotation in meinem Inneren abgelegt und bilden einen emotionalen Resonanzboden, mit dem ich durchs Leben lebe und der meine Sicht der Welt prägt. Ich habe ihn erspürt und damit das, was meine Welt tatsächlich ist, und das gibt mir die Möglichkeit, ein Stück autonomer der Welt gegenüberzutreten. Das ist schon was.