Tot sind wir nicht

Aber das reicht uns nicht, wir wollen auch was erleben

Gestern Abend hatten wir das Konstanzer Kulturleben in vollen Zügen eingesogen. Zuerst ging’s in den Kunstverein zur Mitgliederausstellung. Werke von 113 Künstler bedeckten die Wände wie ein Teppich und ließen uns grübeln, wie es gelingt, diese Überfülle an Werken so wohlgeordnet auf die drei Räume mit ihren zehn Wänden zu verteilen. Danach trennten sich unsere Wege. Mein Schatz ging mit vielen anderen in die Philharmonie, ich gehörte zur Gruppe, die in die Premiere zog.

Das Stück handelt von drei Paarbeziehungen. Ute K., die von Beate geliebt wird, von dem Bestatter Piotr Nagel und seinem Neffen Jason Nagel, der in dem Bestattungsunternehmen seines Onkels arbeitet und der zugleich eine alte Kindheitsbeziehung trifft, nämlich Franka, die die Kühlhalle betreibt. Das Setup ist skurril. Beate und Ute K. verdienen ihr Geld, indem sie nachts Medikamente auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Die Bestatter sollen Ute K.‘s Mann, der kürzlich gestorben ist, unter die Erde bringen. Und Franka ist im Zukunftsgeschäft: Kyronik, also das Einfrieren von frischen Leichnamen, um sie in fünfzig Jahren, wenn die Technik so weit ist, dass die Menschen nicht mehr sterben müssen, wieder aufzutauen. Handlung ist nicht viel. Ute K.‘s Mann stirbt und wird beerdigt. Mehr passiert praktisch nicht. Doch es ist keineswegs langweilig. Im Gegenteil, man wird bestens unterhalten und ist erstaunt, wie schnell die fast zwei Stunden vergehen.

Foto: Milena Schilling

Das Stück besteht aus Fragmenten, kurzen Passagen, die immer zwischen zwei der Personen gespielt werden. Dabei blitzen schlagartig Menschenschicksale auf, Monologe lassen in die Abgründe einer Seele blicken. Kommt die zweite Person ins Spiel, bringt sie das Geschehen ins jetzt zurück. Es ist vor allem die Beziehung zwischen den älteren Frauen Ute K. und Beate, die das Stück trägt. Ute K. lebt mit jeder Faser ihres Seins und redet beispielsweise vier Tage lang mit ihrem toten Willi. Beate hingegen träumt mehr vom Leben, als dass sie es lebt. Sie will an Ute K.‘s Lebensenergie teilhaben. Beide wollen mit dem Gelderlös nach Okinawa, wo die Menschen alle uralt werden. Immer wieder versucht Beate in Ute K. einzudringen, doch die lebt in ihrer eigenen Welt. Es ist eine berührende Liebesgeschichte, die Sabine Martin und Angelika Bartsch mit großer Schauspielkunst auf die Bühne bringen.

Auch die inszenatorische Idee, die Regieanweisungen von Kristina Lotta Kahlert (die später die Franka spielt) mit sanfter Stimme ins Mikrofon sprechen zu lassen, hat mir gefallen. Dass es manchmal gar nicht wirklich zu den Bildern passt, wenn sie beispielsweise von den Pelzmänteln der beiden älteren Damen spricht, die diese aber gar nicht tragen, stört nicht. Im Gegenteil: Das Spiel der Protagonisten tritt damit noch schärfer hervor. Im Laufe des Abends entsteht ein Bild, in dem die einzelnen Szenen wie mit groben Pinselstrichen im expressionistischen Stil eingemalt sind.

Es gab für mich einen kleinen Einbruch in dem Gemälde, als Dominik Puhl als Jason Nagel ein breites Gendersprech auf die Bühne brachte. Klar, die Figur des Jason Nagel, ist schräg genug, wenn er davon träumt, mit großer Rede auf der Konferenz der Bestatter eine Aufbruchstimmung zu erzeugen und neue innovative Bestattungsformen zu etablieren. Das ist so überzogen, dass man auch noch das Gendern draufsatteln kann, könnte man denken. Aber es ergibt keinen Sinn und stört nur.

Ich muss bei der Gelegenheit gestehen, dass ich zu denen zähle, die das Gendern ablehnen. Besonders, wenn man sensibel für Sprache ist, schmerzt es im Ohr. Was es mir aber besonders schwer macht darüber hinwegzuhören, ist, dass es aus der verschrobenen Idee geboren ist, dass es eine Vielzahl von Geschlechtern gibt. Und wenn Puhl dann die künstliche Sprechpause zwischen „Bestatter“ und „innen“ zelebriert, sollen vielleicht die vielen Menschen auf der Tribüne, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen, nun ihren Platz finden, um in dieser Lücke kurzfristig sichtbar zu werden und Linderung von ihrer Seelenpein zu erfahren. Doch die Gendersprache hat mittlerweile nichts mehr damit zu tun. Sie ist Teil eines umfassenderen kulturellen Kampfes um moralische Deutungshoheit, ein Kampf, von dem wir kürzlich in Katar ein bemerkenswertes Schauspiel sehen durften und von dem ich mich trotz gruseligem Grauen nicht lösen konnte.

Doch eigentlich ist nicht die Gendersprache das Problem in Puhls Spiel. Beim Schauspielen geht es doch darum, eine bestimmte Rolle zu verkörpern. Wir wollen den Dr. Faustus sehen, wenn wir in das Goethestück gehen. Der hat seinerseits viele Facetten und die Schauspieler sind eingeladen, bestimmte davon besonders herauszuschälen. Doch es bleibt eine Rolle, die wir erleben wollen und nicht die individuelle Schauspielerpersönlichkeit. Am Ende wird immer auch was vom Schauspieler einfließen, aber das ist nur das Sahnehäubchen.

Aber Puhl spielt keine Rolle, sondern nur sich selbst. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich liebe seine Art, diese ausladenden Bewegungen, die etwas kindliche Art und offensichtliche Freude beim Spiel. Diese zwar sympathische, aber immer gleiche Art passt aber nur manchmal, wie bei „Licht im Kasten“.

Doch der Schaden ist begrenzt, zu überzeugend sind die anderen Darsteller in ihren Rollen, vor allem Odo Jergitsch hat mir neben den beiden Frauen gefallen. Das Bühnenbild ist wie immer einfallsreich und die Kostüme diesmal passend.

Ich hatte geschrieben, dass das Stück wie ein Gemälde dasteht. Und auch wenn das Gendern ein störender Fleck ist, so sieht man doch sehr deutlich, worum es der Autorin, Svenja Viola Bungarten gegangen ist: Wir sind nicht tot, aber viel hängt davon ab, wie wir das Leben sehen, das noch vor uns liegt. Beate sagt es an einer Stelle sehr klar, nämlich, „dass dieser Rest ein Leben ist und nicht der Rest eines Lebens“. Darum geht es, gerade auch mit den dramatischen Umbrüchen am Ende des Lebens. Es ist nur noch ein Rest, aber der ist das ganze Leben. Jeden Tag neu, sozusagen.

Als die Schauspieler den Applaus entgegennahmen, trat das Bild etwas zurück und meine Sicht fiel auf das Ganze. Die Zuschauer, die gleich nach Hause strömen würden, ein paar, die noch auf ein Gläschen anstoßen würden, die Schauspieler, die froh sind, dass alles gut geklappt hat und die Verantwortlichen, die sich freuen, dass das Stück ankam. Eine ordentliche Aufführung in einer kleinen Stadt, die aber die größte am Bodensee ist. In dem Maße, in dem die Nebelschwaden sich legten, kroch die Frage in mir hoch, ob da nicht doch etwas gefehlt hat.

Bei allem Reiz und aller Bewunderung für die hohe Theaterkunst – es hat mich nicht wirklich berührt. Das schöne Bild steht da und wie im Museum steht man davor. Aber ein Bild dringt nicht in mich ein, ganz anders als Musik, die es fast immer tut. Musik spricht ganz andere, viel unmittelbarere Wahrnehmungszentren an. Ein Gemälde hält Distanz.

Und Theater? Theater erzählt Geschichten und ich möchte mich mit den Personen identifizieren, miterleben. Die Geschichte sollte an meine Seele andocken und sie ein Stück mitnehmen. Aber ein Erlebnis hatte ich nicht, nur ein schönes Bild habe ich gesehen. Aber das liegt sicher nicht an der Inszenierung, sondern am Drehbuch der jungen Autorin, die zwar einen erstaunlich sensiblen Text über ein Thema geschrieben hat, von dem sie noch weit entfernt ist, die aber keinen Erlebnisraum erschaffen hat.

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