Der Softie ist wieder auferstanden
Eine Familie, die nach dem Tod der Mutter und Ehefrau sich dysfunktional in ihr Unglück verhakt hat, trifft auf den eher schrägen, gescheiterten Musiker Tearjerker („Schnulze“), der über sein Unglück nicht hinwegkommt. Weil er das Anderer-Leuten-zu-Tränen-Rühren für sein besonderes Talent hält, versucht er immer wieder Emotionen zu wecken in dem depressiven Vater Alain, dem sensiblen dreizehnjährigen Sohn Florin und dessen Bruder Alexandru, der vom Vater im Streit getrennt lebt. Nach einer Weile, in der alle Versuche Tearjokers von den Dreien abzuprallen scheinen, bewegt sich etwas. Etwas, das schnell zu einer bemerkenswerten Dynamik führt. Am Ende, der kathartischen Reise, sitzt die Familie in Eintracht vor dem Fernseher und guckt den Eurovision Song Contest, wo Tearjerker, der sich entschlossen hat, es noch einmal zu versuchen, seinem Auftritt reichlich in den Sand setzt. Aber alle sind glücklich, Happy End.
Der Autor, Lucien Haug, hat das Stück 2022 geschrieben, es wurde in Zürich uraufgeführt und nun in Konstanz zum ersten Mal in Deutschland gezeigt. Dem Konstanzer Team unter der Regie von Kristo Šagor ist eine flotte, in Teilen mitreißende Inszenierung gelungen. Im ersten Drittel kommt sie etwas behäbig und unglaubwürdig daher. Doch schnell steigert sich das Tempo, die Schauspieler finden in ihre Rollen.
Ingo Biermann als Alan ist großartig. Er versprüht eine Dynamik und Energie auf und neben der Bühne, dass es eine reine Freude ist. Auch Leonard Meschter spielt seine Rolle, den jungen Sohn überzeugend. Zu keinem Zeitpunkt kommt Zweifel auf, ob das wirklich ein Dreizehnjähriger ist. Die Figur des Alexandru war für mich nicht so präsent wie die anderen, aber Ioachim-Willhelm Zarculeas Transformation des Publikums in eine Schulklasse gehört zum Köstlichsten, was ich in der Spielzeit gesehen habe.
Lediglich Jonas Pätzold hat mich nicht ganz überzeugt. Ich konnte mich nicht in die dargestellte Figur eindenken, die Schnittmenge ihrer Eigenschaften tendiert in meiner Vorstellung gegen null: Verkitschter Schnulzensänger, verzweifelter Versager, Psychotherapeut, schwul. Insofern stellt sich natürlich die Frage, ob nicht die Figur vom Autor schlecht entworfen oder eingeführt ist, sodass sie fast nicht glaubwürdig dargestellt werden kann. Pätzold gelingen zwar viele lustige Einlagen und ich konnte mich an seiner Schauspielerei erfreuen, aber das Gefühl, einer glaubwürdigen Figur beim Wollen und Wünschen mitzufiebern, stellte sich nicht ein.
Die sehr minimalistisch von Christl Wein-Engel gestaltete Bühne hat im Mittelpunkt einen dicken Schlauch, dessen Verknotung die Blockaden im Familienverhältnis symbolisiert. Dieser Schlauch wird nach und nach entknotet und spiegelt so die Handlung. Eine schöne Idee.
Im Programmheft finden sich interessante Texte zu Männerfragen, wie der Umgang mit Rollenzwängen. Allerdings kann ich die Sicht nicht nachvollziehen, von der die Einführung geprägt ist, nämlich, dass es um die Unfähigkeit von Männern Gefühle zu zeigen ginge. Tatsächlich zeigt das Stück die elende Situation eines Vaters mitten in seiner Depression, den Verfall des Haushalts, die Verzweiflung und Hoffnung seines Kindes und die Hassliebe des ausgezogenen Sohnes. Es ist ein menschliches, familiäres Drama und gründet im Verlust des offensichtlichen emotionalen Mittelpunkts der Familie. Ich kann beim besten Willen nicht sehen, dass irgendwo die gesellschaftlichen Rollenerwartungen an Männer mehr als eine untergeordnete Rolle gespielt hätten.
Mir drängte sich das Bild des im Hörsaal pulloverstrickenden Soziologiestudenten der 1970-er Jahre vors Auge. Dazu passt, dass im Programmheft eine Strickanleitung für „Anfänger*innen“ abgedruckt ist und im Foyer des Theaters ein kostenloser Strickkurs angeboten wird.
Wenn Sie das abschreckt: Das hat alles nichts mit der Aufführung zu tun.