Wie funktioniert eine 2500 Jahre alte Taschenlampe?
Ich habe mich das schon immer gefragt: Wie kann man so ein uraltes Theaterstück heute noch aufführen? Schon das Mittelhochdeutsche ist ja eine Fremdsprache aus einer fremden Welt und das ist nur knapp 1000 Jahre her. Und ist das Gerede von uralten Weisheiten nicht nur genau das: Gerede? Jetzt also Antigone, und wie ich bei einem Kontrollblick feststelle, das erste Stück aus der Zeit, als diese Kunstform entstand, welches ich in Konstanz gesehen habe.
Und tatsächlich erwische ich mich mitten im Stück, wie ich das Theaterganze in den Blick nehme und einen vollbesetzten Saal sehe, der auf eine Bühne schaut, wo Schauspieler mit großen Gesten gestanzte Verse sprechen. Noch mit den Spuren der vergangenen Haushaltsdebatte und den Vorwürfen, mit den Geldern für das Theater würden nur Eintrittspreise für ohnehin besserverdienende, meist ältere, weiße Bildungsbürger subventioniert – also mit diesem Hintergrund sah ich plötzlich vor dem inneren Auge eine Fernsehreportage, die einen Schwenk über den Saal auf die Bühne macht, während die sonore Fernsehstimme spricht: „… Auch heute noch ist Theater…“.
Aber es ist nur ein kurzer Blick auf die Realität, die meiste Zeit war ich gebannt im Gezeigten und versuchte meinen Kopf im Zaun zu halten, ob der vielen Gedankengänge, die das Geschehen auf der Bühne auslöste. Dabei hatte ich vorsorglich die Wikipedia konsultiert, um wenigstens nicht ausschließlich damit befasst zu sein, dem Handlungsablauf dieses Familiendramas folgen zu können, was ja gewissermaßen die Fortsetzung der überaus erstaunlichen Geschichte des Ödipus ist. Ich will sie hier nicht wiederholen und man muss sie auch gar nicht vor dem Besuch kennen. Sophokles beherrschte die Kunst des Stückeschreibens; die handelnden Personen und die Vorgeschichte werden sauber eingeführt und viel Handlung ist es ohnehin nicht, auch wenn sich am Ende alle Personen aus dem königlichen Geschlecht umgebracht haben, bis auf einen, der noch lebt, aber nicht mehr leben will, sondern muss. Die alten Griechen wussten offensichtlich und trauten sich noch auszusprechen, dass das Leben keine Barbie-Welt mit Happy End ist.
Vielleicht ist es sogar zu viel, von einer Handlung zu sprechen. Sophokles konstruiert vor allem eine Situation, eine Konstellation und die Menschen müssen darin agieren, im Grunde ohne Wahl. Was gesprochen wird, sind keine Dialoge, die eine Handlung vorantreiben, es sind kontrastierende Monologe, die die Prinzipien entblättern, denen die Protagonisten unterworfen sind. Und da steht im Zentrum der Konflikt zwischen Antigone und ihrem Onkel Kreon, dem Herrscher von Theben. Er steht für die vom Menschen gemachten Gesetze, sie für die universellen, von den Göttern gegebenen.
Aus heutiger Sicht ist man schnell dabei, diesen Konflikt als den Kampf der feministischen Frau gegen die Willkür des Patriachats zu verorten. Man muss aber bedenken, dass das Prinzip des Kreons dasjenige ist, das die menschliche Gesellschaft begründet. Wenn man frühmorgens beim Bäcker ein paar Brötchen und die Tageszeitung gegen ein kleines Stück Papier tauscht, auf dem „5 Euro“ steht und sich nicht gegenseitig um die Nahrung balgt, dann agiert man in einem riesigen Kosmos von Gesetzen, Regularien und Praktiken, die überhaupt erst Wohlstand, Gesundheit und Frieden gewähren. Und wenn es in diesem gigantischen, vom Menschen geschaffenen Getriebe eine kleine Störung gibt, erleben wir mit großem Entsetzen, wie schnell sich zeigt, dass auch Barbarei und Krieg zur Natur des Menschen gehören.
Und doch kann dieses Prinzip der Menschenherrschaft nicht alles sein. Denn der Mensch wird nicht vom Menschen beherrscht, sondern von etwas, das über den Menschen hinausweist, das unterlegt ist mit Liebe, Empathie und Solidarität und das von Antigone in den Göttern verortet wird. Unsere säkularisierte Welt vergisst dieses Prinzip und ist blind. Wenn beispielsweise im Bundestag über das Recht diskutiert wird, einmal im Jahr sein Geschlecht ändern zu dürfen, ist dies ganz im Allmachtgeiste Kreons, der seine Macht über die der Natur stehend sieht, während die Vertreter der Gegenseite das Prinzip der Antigone hochhalten. Dass sich die heutigen Kreons dabei oft auf der Antigone-Seite wähnen, ist eine Kuriosität unserer verwirrten Zeit, die mich an guten Tagen schmunzeln macht.
Aber hier bin ich schon in meine persönliche Interpretation abgerutscht, Anderen wird Anderes durch den Kopf geströmt sein. Solange diese Gedanken von dem ursprünglichen Stoff ausgehen, ist die Inszenierung gelungen. Es gibt tatsächlich keinen Moment in den eineinhalb Stunden, in denen man sich befremdlich von dem Geschehen auf der Bühne abwendet. Man mag das als unterste Latte für die Bewertung von Schauspielkunst halten, doch ich habe großen Respekt davor, diese uralten Texte so zu schauspielern, dass die auftretenden Figuren glaubwürdig sind. Ich fand unser Ensemble ohne Schwächen. Es soll nicht die grundsolide Leistung beispielsweise eines Ingo Biermann relativieren, aber das absolute Highlight war für mich Sarah Siri Lee König sowohl als Teil des Chors als auch als Seher Tiresias. Wie sie der ernsten Figur ein kindliches Kokettieren unterschiebt ohne einer der Facetten ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen, ist brillant. Dass sie gleichzeitig mit dem Publikum spielt, ist bewundernswert souverän für eine so junge Schauspielerin.
Das Konstanzer Theater hat sich mal wieder entschlossen, den Einzelapplaus einzufordern, ein Ritual, das in vielen Aufführungen umgangen wird, indem die Schauspieler nur als Gruppe oder in bewusst willkürlicher Reichenfolge auf die Bühne kommen. Jetzt also wieder einzeln von Nebenrolle zu Hauptrolle, mit Anne Rhode als Antigone am Schluss. Die Zuschauer sind natürlich genötigt ein Klatschcrescendo abzuliefern und können nur in Nuancen der Abweichung ihre Bewertung ausdrücken, in diesem Fall mit etwas intensiverem Klatschen bei König.
Dieses Applausritual finde ich gut, es wurde aber nicht wiederholt, was ich auch gut fand, denn es ist durchaus eine Teamleistung, zusammen mit der rein weiblichen Regie, Dramaturgie, Bühnenbild und Kostüme und den ganz zuletzt hinzukommenden technischen Gewerken, wo dann auch ein paar Männer erschienen. Denn wo wäre die Inszenierung ohne das großartige Bühnenbild, die überzeugenden Kostüme und einem Licht und einer Musik, die außerordentlich sehen- und hörenswerte Bilder produzierte? Ein bisschen was hat die Aufführung eines solchen Klassikers ja auch von der Oper, bei der es vor allem darum geht, die gegebene Musik in immer neue Bilder zu tauchen.
Im Foyergespräch rätselten wir darüber, ob die Texte von Martin Walser ergänzt oder verändert wurden. Immerhin wollte die Regisseurin Susanne Schmelcher den Stoff mit Blick auf unser heutiges Demokratieverständnis „untersuchen“. Vielleicht kamen da Texte hinzu, aber ich habe sie nicht bemerkt. Eigentlich schade, denn ich würde so eine Änderung gerne genau erkennen und betrachten können. Aber, wie gesagt, es ging an mir vorbei und vielleicht ist Sophokles´ Text so stark wie eine Eiche, die auch nicht merkt, wenn sich die Sau an ihr reibt, wie das Sprichwort sagt.
Ich habe dann doch einen Blick in das Begleitheft geworfen und den programmatischen Eingangstext unter dem Titel Ungeheuer ist viel gelesen. Der Text, der keine Autoren nennt, lässt Judith Butler die Verwandtschaftsverhältnisse erklären und benennt die Motivation der Regisseurin, Susanne Schmelcher, mit „politischer Subjektivität und sozialer und ökologischer Gerechtigkeit“ und auch mit der „gegenwärtige[n] materielle[n] Zerstörung menschlicher Körper und Bevölkerungen“. Leider machen Verben wie „befassen“ und „verweisen“ mir nicht möglich, zu verstehen, was genau gemeint ist und wie sich das im Stück niederschlagen sollte. Vielleicht ist das auch gut so.