In der Provinz wird Dekadenz schnell zur Spießigkeit
Vermutlich hatte fast jeder Premierenbesucher den Film mit Liza Minelli aus dem Jahr 1972 bereits früher einmal gesehen. Dass die Besucher die Aufführung am Stadttheater Konstanz damit vergleichen würden, musste der Regie und allen Beteiligten klar sein. Und ebenso klar dürfte gewesen sein, dass man genau das verhindern musste, denn gegen die mit acht Oscars prämierte Musicalverfilmung kann man auf der Bühne schwerlich ankommen.
Nun ist das Musical von John Kander und Fred Ebb, das der Konstanzer Inszenierung zugrunde liegt, ohnehin anders als der Film von Bob Fosse. Und das Musical wiederum unterscheidet sich von dem gleichnamigen Theaterstück, welches seinerseits abweicht von Christopher Isherwoods Romanvorlage Leb wohl, Berlin aus dem Jahr 1939. Es ist interessant zu sehen, dass zwar immer die gleichen Elemente auftauchen, wie die Mietwohnung, der Club, der Engländer oder auch Amerikaner, die Sängerin, aber dann doch handelnde Personen sich unterscheiden und die Schwerpunkte teils deutlich anders gesetzt sind.
Im Film ist der aufsteigende Nationalsozialismus nur ein zeitgeschichtlicher Hintergrund, vor dem sich die Liebesbeziehungen entfalten. Das Musical zeigt hingegen, wie die Politik tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen greift und diese zerstört. (Uns Heutigen ist dieser Vorgang seit 2015 nicht unbekannt.) Die Liebesgeschichte zwischen Fräulein Schneider und Herrn Schultz zeigt viel ernsthafter die Gewalt der ideologischen Vergiftung der Zeit, als das eher kitschige Turteln zwischen Fritz Wendel und Fräulein Landauer in der Verfilmung. Und man muss es ausdrücklich loben: Die Verlobung zwischen den alten Leuten mit dem Song Meeskite – vorgetragen von Ralf Beckord – und die Sprengung des Fests mit dem Chorgesang Tomorrow belongs to me entlassen die Zuschauer beeindruckt in die Pause.
Auch Bühne, Kostüme und Orchester sollte man hervorheben. Das Instrumentarium der Konstanzer Bühnentechnik wird voll ausgespielt. Überall geht es rauf und runter, die Vorhänge gehen auf und zu, der ständige Wechsel zwischen Kit-Kat-Club und Fräulein Schneiders Wohnung gelingt. Selten waren so viele Akteure gleichzeitig auf der Bühne. In Anbetracht der diskutierten Sicherheitsmängel und Bauschäden am Gebäude fast beängstigend.
Doch bleibt das Stück insgesamt fad. Der Kit-Kat-Club soll prickelnde Erotik ausstrahlen, doch dazu reicht es nicht, mit Strapsen über die Bühne zu laufen. Auch Männer in Frauenklamotten verströmen heute kein verruchtes Flair mehr, Transvestiten und Transsexuelle sind in der Mitte unserer (Medien-)Welt angekommen.
Auch bleibt das Spiel unglaubwürdig. Wenn Cliff zu Sally sagt, sie sei die verrückteste Frau, die es gäbe, dann hört man’s wohl, doch glaubt es nicht, denn Anne Simmering wirkt eher als Akrobatin denn als Femme Fatale. Besser gelingt es Arlien Konietz den amerikanischen Schriftsteller zu verkörpern, vielleicht ist das aber etwas weniger anspruchsvoll. Auch Ingo Biermann macht seine Sache gut, obwohl für die Interpretation des zwiespältigen, erotisch und weltanschaulich ambivalenten Conférenciers noch viel Luft nach oben wäre. Kurios, dass er nur in der Eröffnungsszene im German-English singt („Sänk ju for träwelling wis ze Deutsche Bahn“). Wenn man weiß, dass Joel Grey, der die Rolle im Film spielt, wochenlang geübt hat, um den englisch sprechenden deutschen Ansager zu mimen, wundert es, wenn Biermann im Rest des Stücks nur wohlpronunziertes Amerikanisch präsentiert.
Es gelingt letztlich nicht, die Stimmung der späten Zwanzigerjahre in Berlin auf die Bühne zu bringen. Die Kreativität, die intellektuelle, politische und sexuelle Freiheit, und die besondere Mischung von Internationalität und Berliner Derbheit auf der einen und die zunehmende Verengung der Verhältnisse, die Gewalt von Links und Rechts, der Einzug der nationalen (politischen) Korrektheit und neuen Spießigkeit wird mehr zitiert als gespielt. Die Chance, die Zuschauer für kurze Zeit in die Vergangenheit zu holen, hätte für sie die Frage provoziert, wo man die heutigen gesellschaftlichen Debatten in der Weimarer Republik verorten würde. AFD, Antifa, Greta, Gendersternchen, Christopher Street Day, Enteignungen, Dieseltote … wo wäre das Pendant in der Welt der Sallies, Fräulein Schneiders, Ernst Ludwigs und so weiter?
Bleibt noch die Musik. Das Orchester ist über jeden Zweifel erhaben, sowohl von der Musik als auch von der Kostümierung her. Doch beim Gesang waren die Meinungen, die ich gehört habe, gespalten. Einiges gefiel, einiges nicht. Besonders problematisch fand ich die Gassenhauer, wie Mein Herr oder Cabaret. Sie werden teilweise im Liza-Minelli-Stil gesungen, dann aber deutlich anders interpretiert. Da wird dem Zuschauer quasi ein unguter Vergleich aufgezwungen. Ganz so locker wie bei Forever young gelingen die Stücke nicht. Aber das ist vermutlich Geschmackssache, vielen wird die Musik gefallen. Man sollte sich das Stück anschauen.