Zwölftonmusik in Textform
Die Handlung von Jon Fosses „Meer“ ist schnell erzählt, es gibt nämlich keine, oder fast keine. Es gibt lediglich ein Setup: Sechs Menschen, zwei Männer und zwei Paare befinden sich irgendwo, sie wissen nicht, wo sie sind und auch der Zuschauer weiß es nicht. Die Personen sprechen Sätze mit Pausen dazwischen, die meisten Sätze sprechen sie so vor sich hin, manche richten sie auch an andere Personen auf der Bühne und auf einige dieser Sätze reagieren die Angesprochenen sogar. Ob es sich dann um eine Antwort handelt, ist meist unklar.
Überraschenderweise entwickelt Fosses Stück einen großen Reiz, wenn man sich darauf einlässt. Ebenso wie die Personen auf der Bühne sollte der Zuschauer nicht versuchen zu ergründen, wo man nun eigentlich ist. Wenn es hilft, kann man sich denken, die Personen seien tot und irgendwo im Jenseits. Aber je weniger man sich bemüht, das Gezeigte zu verorten, desto reiner kommt der Stoff rüber. Ohne Bezug zu einem Außen, bleibt den Personen nämlich nichts, als sich ihrer selbst zu versichern.
So betonen die beiden Männer, mit denen das Stück beginnt, ihre Profession. „Ich bin der Kapitän, ich habe alle Meere befahren, wir sind auf dem Meer“. Das redet er sich genauso ein, wie der Gitarrenspieler: „Ich bin Gitarrenspieler“. Der spielt sogar, Luftgitarre eben. Das ältere Paar ist immerhin ein Paar, sie reden von wir. „Wo sind wir hier, lass uns fortgehen“, was sie natürlich nicht tun. Der Mann bekommt im Stück Zweifel an der Beziehung: „Ich kenne Dich eigentlich gar nicht“ merkt er irritiert. Das junge Paar kommt gerade erst zusammen, ober besser halb zusammen. Denn während der Mann weiß, dass er nun die Frau seines Lebens gefunden hat, weiß die eigentlich nichts. Überhaupt lautet der Hauptsatz der beiden Frauen: „Ich bin hier“, eine sehr fundamentale Art der Selbstversicherung.
Während man den Schauspielern lauscht, wie sie ihre Sätze deklamieren, spürt man, dass sich die Aussagen verschränken und wie Musikinstrumente Teil einer Sinfonie werden. Fosse hat sicherlich viel mehr kunstvolle Bezüge angelegt, als die, die man beim Zuhören entdeckt. Das Stück macht Lust, den Text auf eine große Tapete zu schreiben und mit Kreisen und Linien die Partitur des Gehörten zu rekonstruieren. Es ist im Übrigen auch einzig die Musik, die die sechs Personen auf der Bühne zusammenbringt, und zwar die lautlosen Klänge der Luftgitarre. Die Zuschauer werden durch echte Musik zu Beginn und am Ende der Aufführung einbezogen.
Bei allem Reiz bleibt das Ganze doch etwas blutleer. Ähnlich wie ein abstraktes Gemälde gegenüber einer üppig bebilderten biblischen Szene kalt und bedeutungslos wirken kann, so kann man bei Fosses „Meer“ auch den Ausdruck von Gefühlen und menschlicher Interaktion vermissen. Man kann durchaus die Frage stellen, ob eigentlich die Theaterbühne die beste Form ist, den Stoff zu präsentieren. Die Eleganz einer mathematischen Formel erschließt sich schließlich auch nicht, wenn man sie auf der Theaterbühne aufsagt oder singt. Doch hat Jon Fosse es so gewollt und Regisseur Wulf Twiehaus und die Schauspieler machen ihre Sache hervorragend und auch die blätterlose Baumruine, die mitten auf der Bühne liegt, symbolisiert die Lebensstarre der Personen nachdrücklich.
Wenn Sebastian Küster im Südkurier sich über die Abstraktion beklagt und schreibt, Twiehaus überspanne den Bogen der Ungenauigkeit und verfehle das Ziel, den Zuschauer auf seine Reise mitzunehmen, dann dürfte das vor allen dann stimmen, wenn er mit „den Zuschauer“ sich selbst meint. Er steht vor dem Stück wie vor einem abstrakten Gemälde mit der Frage, ob da nun eine Tasse oder eine Badewanne zu sehen sei. Aber, wenn man Abstraktion mit Ungenauigkeit gleichsetzt, hat man ohnehin verloren.
Im Gegensatz zu Küster kann ich also den Besuch in der Spiegelhalle sehr empfehlen.