Büchner feministisch verwurstet
Schon beim Hinabsteigen auf den mit schönem, rotem Teppich ausgelegten Stufen zurück ins Foyer war das Urteil gefällt: Das Bühnenbild von Lise Kruse war ausdrucksstark, die Puppenkopffiguren sehenswert, die Musik eindringlich, egal ob sanft oder fetzig und die Choreografie ideenreich, man hätte gerne den hinreißenden Tänzern länger zugeschaut. Doch die Figuren waren blass und ausdrucksschwach, die Dialoge tendierten gegen Langeweile. Besonders Ruby Ann Rawson brachte das Schicksal des Franz Woyzeck nicht im Ansatz glaubwürdig auf die Bühne, genauso wenig wie es Anna Eger gelang, den Hauptmann zu verkörpern. Ulrich Hoppe als Doktor und Patrick O. Beck als Tambourmajor waren solide gespielt, aber konnten das schwache Spiel der anderen nicht kompensieren.
Da nun die beiden Rollen, die so schemenhaft und blass blieben, Männerrollen waren, die von Frauen gespielt wurden, oder, wie die Regisseurin Nina Mattenklotz es formulierte: männlich gelesene Rollen, die von weiblich gelesenen Schauspielenden besetzt wurden – weil das also nun so war, stellte sich natürlich die Frage, ob diese Besetzung der Grund war, dass es schiefging. Ich würde sagen, nein. Ich habe schon Stücke gesehen, in denen das wunderbar funktioniert hat. Zum Beispiel Renate Winkler im Franziskus, 2019 in der Christuskirche aufgeführt.
Der Grund kristallisierte sich für mich in den angeregten Gesprächen nach der Aufführung langsam heraus. Die Besetzung war nicht gewählt worden, um die Figuren glaubwürdig herüberzubringen, auch nicht, weil es dem Theater so arg an männlichen Schauspielern mangelt. Nein, die Rollenumkehr sollte zeigen: Es gibt mehr als zwei Geschlechter und der Geschlechterfluidität und den sich also als non-binär identifizierenden Menschen gehört die Zukunft und darum der postmodernen Genderideologie die Bühne. Der Regisseurin und vielleicht auch der Dramaturgin geht es auch nicht um Woyzeck, sondern um Marie, ihr Schicksal soll gezeigt werden. Wo so rabiat gehobelt wird, dürfen schon mal ein paar Späne fallen. Aber wenn der Kern des Stücks sich in hohlen Gesten verflüchtigt, stellt man sich schon die Frage, ob es dem Anliegen nicht hilfreich wäre, ein eigenes Stück zu schreiben, statt diesen einen Klassiker auf Feminismus zu bürsten.
Dass die Schwerpunktverlagerung von Woyzeck auf Marie misslingt, hat wohl zwei Gründe. Die Figur des Woyzeck, der sich seelisch und körperlich aufopfert, um ein bisschen Geld zu verdienen, damit er Marie und das gemeinsame Kind unterstützen kann, dieser verantwortungsvolle, empfindsame und furchtbar gedemütigte Mensch wird reduziert auf ein nicht mehr funktionierendes Rädchen in einem von Männern installierten Machtsystem. Er wird zu einem billigen Klischee dessen, was Männer ausmacht. Im Programmheft kann man dieses Bild studieren: Mann leidet, die Seele kocht, er nimmt das Messer und sticht jemanden ab, der in der Hierarchie noch unter ihm steht, fertig ist der Femizid.
Der andere Grund ist Marie: Sie leidet, sie wünscht sich ein anderes Leben. Sie will nicht ihr Leben als unverheiratete Mutter eines unehelichen Kindes verbringen, sie will ihre Schönheit genießen, will tanzen und, ja und was eigentlich? In den vielen Sätzen, die Mattenklotz für Marie getextet hat, erlebe ich keine Person, die sich mit ihrer Verantwortung im und für ihr Leben auseinandersetzt. Diese oberflächliche Suche nach Freude wird von Anne Rohde tatsächlich gut gespielt. Aber das Ganze ergibt leider kein Drama, sondern nur eine Farce.
Experimentieren im Theater sollte man. Manchmal geht es halt schief.