Wer hat Angst vor Virginia Woolf

Den Schleier zerreißen

Wenn man über das Verhältnis von Theatertext zu Aufführung nachdenkt, stößt man schnell auf zwei Möglichkeiten. Den Text kann man verstehen als mehr oder weniger geschickt arrangierte Schablonen, in die die Schauspieler ihr kunstvolles Spiel hineinlegen, die sie zum Leuchten bringen. Und nicht nur sie, auch für Bühnenbild und Kostüme, für das ganze künstlerische Drum und Dran ist der Text eine Einladung, sich zu entfalten. Man kann es aber auch andersherum sehen. All das Geschehen, die phantasievollen Aufbauten, all das Spielen auf der Bühne ist nur Mittel zum Zweck. Es dient nur einem, nämlich den Text wie ein Juwel erstrahlen zu lassen. Bestenfalls agiert das Ensemble aus dieser Perspektive wie ein Diamantenschleifer, der dem Rohdiamanten die schillernden Facetten verpasst.

Diese Dichotomie aufzumachen heißt zugleich, sie zu begraben. Natürlich ist es immer beides zugleich. Lediglich als Zuschauer darf man sich der einen oder anderen Seite zuschlagen. Meist will ich mich vom Spiel der Schauspieler verzaubern lassen. Doch bei diesem Stück war ich ganz auf seiten des Textes. Das heißt mitnichten, dass mir das Spiel nicht gefallen hat, es verschwand hinter dem Gespielten. Vielleicht ist das die wirkliche Schauspielkunst, nämlich dass man nicht guckt, wie die Künstler spielen, sondern vom Spiel gefangen wird.

Die Gespräche nach dem Stück oder in der Pause, die es nach langer Zeit mal wieder gab, drehten sich vor allem darum, nachzuvollziehen, was man da gesehen hat, langsam anzufangen, das Gezeigte in das eigene Weltbild einzusortieren. Ist Martha wirklich so abgrundtief böse? Gibt es tief unten eine Ebene, auf der Martha und George sich vielleicht doch verstehen, sich gar lieben? Den Indizien gingen wir nach und als sich das ein bisschen geklärt hatte, stellte sich die Frage: Was fangen wir denn nun damit an? Was sagt uns das alles? Die Zeit war irgendwann fortgeschritten und wir konnten uns nicht auf etwas Griffiges einigen. Ich habe gemerkt, dass ich tatsächlich noch darüber nachdenken muss. Das spricht natürlich für den Text.

Und auch für das Schauspiel. Wobei, wenn man etwas genauer hinschaut oder es am nächsten Tag rekapituliert, glaube ich, das noch Luft nach oben ist. Man kann die Rollen noch besser ausfüllen. Martha könnte subtiler agieren und dadurch den herauspolternden Hass noch wirksamer platzieren. Auch Nick könnte lebendiger dastehen, gerade zu Beginn. Der vorgespielte Hansdampf und der schon früh im Leben Resignierte stehen manchmal unverbunden nebeneinander. Aber sich mit solchen Beobachtungen aufzuhalten, würde der Aufführung nicht gerecht. Wirksam, im Sinne von mich als Zuschauer zu fesseln, war das Spiel allemal.

Großartig ist die Bühne: ein Lichterkäfig, der alle Räume des Hauses zum Leuchten bringt, vor allem, wenn er geschoben oder gedreht wird.  Die Kostüme sind sachdienlich, lediglich bei Martha hat Christl Wein-Engel ein wenig dick aufgetragen, man kann kaum den Blick von Jana Alexia Rödiger im hautengen Glitzerkleid abwenden, was es damit vielleicht schwer macht, in Martha das schwache, ängstliche Kind zu sehen.

Vielleicht konnte ich mich so gut auf den Stoff konzentrieren, weil ich den Film mit Elisabeth Taylor und Richard Burton bereits als Pubertierender gesehen hatte. Die toxische Weiblichkeit hatte mich schockiert. Für mich gab es Mädchen, die nichts mit Frauen zu tun hatten, und Frauen, wie meine Mutter und meine Tanten. Schockartig wurde mir klar, welche Gefahren in Beziehungen lauern, und die Angst, in eine solche Hölle zu geraten, wurde geweckt. Mit der Zeit lernt man, dass es auch friedliche Liebe gibt, aber man bleibt vorsichtig. Ich glaube, dass ich vor lauter Betroffenheit den eigentlichen Inhalt seinerzeit gar nicht wahrgenommen hatte.

Dafür aber diesmal! Die Handlung vollzieht sich mindestens auf drei Ebenen. Dem Hass, mit dem sich das Ehepaar bewirft, der Kumpanei, mit der sie ihr Schicksal als Spiel ihren Gästen vorführt und dann die tatsächliche Beziehung, um deren Entwicklung es Edward Albee letztlich gegangen sein dürfte. Erst hier treffen zwei Seelen aufeinander.

Und die eine ist nur auf der Oberfläche schnell erzählt. Martha lebt in einer Zeit, in der die Ehe für einen Teil der Gesellschaft ihren praktischen Sinn verloren hatte, Haushaltsarbeit war stark automatisiert und die Familienführung auch keine Lebensaufgabe mehr, manche Frauen langweilten sich. Martha legt sich einen Traum zurecht, mit dem Ehemann, der das Kolleg übernimmt. Der Traum zerplatzt, Kinder haben sie auch nicht, und sie sitzt wie ein gefangener Tiger im Käfig und brüllt beängstigend. In Wahrheit ist sie aber ein hilfloses Kind, das sich nicht von seinem Papa lösen kann, weil es viel zu ängstlich ist und sich statt zu leben einen Phantasiesohn bastelt.

Und George ist vor allem desillusioniert und hat sich eingemauert. Die zarten Versuche, seine Verletztheit als Jugendlicher neu anzusehen und so zu bannen, werden von seinem Schwiegervater lächerlich gemacht. Vermutlich spielt er seither das böse Spiel lustlos mit.

Das Happy End – ja, ich sehe es so – läutet dann George ein, der die Illusionen und Phantastereien von Martha und wohl auch von sich selbst zerschlägt, indem er den Sohn „umbringt“. So stehen die beiden ungeschminkt vor sich und dem Leben und haben die Chance, doch noch so etwas wie Glück zu finden. Und uns gibt das die Möglichkeit, eine Lehre daraus zu ziehen und den Impuls, sich einmal selbst ganz nüchtern anzuschauen.

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