Wie hast Du Dir Dein Leben so eingerichtet?
Man könnte eine Theateraufführung mit einem Haus vergleichen. Der Autor entwirft die Architektur und errichtet Wände, Fenster und Türen. Regie und Bühnenbild sorgen für Möblierung, Tapeten, Vorhänge und Heizung. Die Schauspieler füllen das Haus mit Leben. Und der Zuschauer betritt das Haus, schaut sich um und fühlt nach, ob er in dem Haus leben könnte und wie das wäre. Wo würde man sich wohlfühlen und wo würde man anecken, weil die Decke zu niedrig, die Einrichtung zu muffig oder die Bewohner zu blöd sind. Eine schlechte Aufführung würde den Besucher an einen ihm nichtssagenden Ort führen. Eine gute wäre hingehen eine, bei der die Auseinandersetzung mit dem „Wohngefühl“ zu fruchtbaren Betrachtungen führt. „Morgen ist auch noch ein Tag“ war so eine.
Der Rohbau ist eine einfache Konstellation: Karl Auer, der Ehemann und Vater dreier Söhne, geht nach „20, 40 oder 80 Jahren“ in Rente. Er freut sich auf die neue Freiheit und darauf, sie mit seiner Frau zu verbringen. Die aber hat sich ihr Leben mit Sprachkurs, Chor, einem kleinen Job und vor allem ihrem Engagement für die Strandmalerei einer Inselgruppe im Pazifik eingerichtet. Und sie ist nicht bereit, ihr Leben zu ändern und möchte am liebsten ihren Mann abschieben. In ihrer Not zieht sie ihre Söhne mit in den aufziehenden Konflikt, aber die wollen vor allem in Ruhe gelassen werden.
Das Ganze ist vom Autor Philipp Löhle sehr plakativ und komödiantisch angelegt. Man könnte das kritisieren. Niemand, der in die Rente geht, ist so naiv zu glauben, Nichtstun sei die Erfüllung nach einem jahrzehntelangen Berufstrott und wohl kaum eine Ehefrau wird so ignorant wie Katja Auer sein. Aber egal, was man vorher denkt, wenn es einem passiert, ist es anders; das „schwarze Loch“ schaut einem aller Vorüberlegung zum Trotz tief in die Augen. Insofern kann man die Überzeichnung akzeptieren und den skurrilen Humor genießen, der durchaus Anleihen bei Loriot nimmt.
Regisseur Abdullah Kenan Karaca, Bühnenbildnerin Elena Scheicher und Kostümdesignerin Elke Gattinger scheinen auf die Kraft der Textvorlage zu vertrauen. Es sind einige großartige Momente eingebaut, wie der Eingangsmonolog oder die Szene, in der Karl von allen und allem bestürmt und angeschrien zusammenbricht. Aber alles in allem, scheint ihr Ziel gewesen zu sein, dem Text Geltung zu verschaffen und nicht von ihm abzulenken, was ich für eine kluge Wahl halte.
Das metaphorische Haus ist somit gebaut und eingerichtet und das Ensemble füllt es mit Leben. Das beginnt fulminant, mit einem 10- bis 15-minütigen Monolog, gesprochen in rasendem Stakkato, das einem nicht nur Ehrfurcht einflößt vor der Auswendiglernleistung von Thomas Fritz Jung, sondern auch zeigt, welchen starken Gefühlskosmos man mit starrem Körper und nur dem leichten Zittern in den Fingern der rechten Hand darstellen kann. Eine großartige Zusammenfassung des Lebens eines Babyboomers. Alle Schauspieler meistern ihre Rollen, nie stößt eine Figur störend an und zerreißt den Erzählfluss. Lediglich Miguel Jachmann in der Rolle der drei Söhne wirkt etwas steif, die Söhne bleiben oberflächlich, man spürt nicht die Stelle, an der ihr Leben gebrochen ist. Sehr lustig agieren Sabine Martin und Sebastian Haase in der Rolle der schrägen Alten, Karikaturen verbohrter Menschen, mit großem Hass, aber auch viel Selbstironie. Ich deute sie als Rollenangebote an den frisch gebackenen Rentner, sie sich zu eigen zu machen, um den Blick in den Abgrund zu vermeiden.
Ich bin gerne in das „Haus“ eingezogen. Man kann sich wahlweise in Karl oder Katja hineinversetzen. Es erscheint zunächst, dass Katja lebenskluger agiert als Karl, der am Tiefpunkt völlig zerstört, mit heruntergelassenen Hosen am Boden liegt und die sich in Richtung Südsee verabschiedet. Doch wenn man fragt, wer sein Leben wirklich lebt, gewinnt Karl plötzlich das Format eines klassischen Helden, während Katjas Lebenseinstellung blass wird. Sie hat die drei Kinder rausgedrückt und aufgezogen, wunderschön von Katrin Huke mit einer bildhaften Bewegung ihrer Hände dargestellt, und hat sich, da sie damit nicht ausgefüllt war, noch Beschäftigung gesucht. Die Sichtweisen auf die beiden waren aber bei den Premierenbesuchern, mit denen ich sprach, keineswegs einheitlich, keineswegs festgeschrieben, sondern wandelten sich im Gespräch. Jeder betrat das „Theaterhaus“ durch eine andere Tür, aber jeder hat sich interessiert umgeschaut.
Dass es dem Autor um das Geschlechterverhältnis geht, wird am Ende deutlich. Karl reist Katja nach und die beiden rezitieren einen Mythos der Inselgruppe, in dem die Rollen von Mann und Frau klassisch symbolisiert werden. Sie finden sich nun im Alter auf der Zuschauertribüne des Lebens wieder und schauen der nachfolgenden Generation zu, wie diese die ewig sich wiederholenden Rituale abspulen.
Am nächsten Tag habe ich nochmal über das Stück nachgedacht und gemerkt, dass etwas Entscheidendes fehlt. Ob der Autor es nicht gesehen hat – er war erst 30 Jahre alt, als er das Stück geschrieben hat, also ein Greenhorn in dieser Frage – oder er uns durch das Weglassen darauf stoßen wollte, kann ich natürlich nicht sagen. Mir fiel auf, dass die Protagonisten nie wirklich miteinander geredet hatten. Nie sind sie sich nahegekommen. Karl hat förmlich nach Nähe geschrien, aber prallte an der Mauer von Ignoranz und Selbstbezogenheit seiner Familie ab.
Er hat aber auch die Kernfrage nie gestellt: Was fangen wir eigentlich mit unserem Leben an? Es ist nämlich so, dass wir uns diese Frage viel zu selten stellen. „20, 40 oder 80 Jahre“ lang – um den Running-Gag aufzugreifen – rennen wir in einer Alltagsmühle dahin. Nur wenn etwas im Leben zerbricht, halten wir kurz inne, oft genug aber stürzen wir uns wieder in die geregelten Abläufe. Und wie armselig ist Katjas Rat an Karl: Such Dir eine Beschäftigung! Die Idee, das Leben auf Beschäftigung zu reduzieren, kann nur in einer säkularisierten Welt entstehen und auch nur, wenn die Menschen bereit sind, mit den Kirchen zugleich jede Spiritualität auszugießen.