Das Leiden der Anywheres
Ich konnte nach der Premiere kurz mit der sympathischen Autorin Anna Gschnitzer sprechen. Leider hatte ich die wichtige Frage nicht gestellt, nämlich die, ob sie mit der Inszenierung zufrieden gewesen sei. Darum kann ich nur sagen: Sie sollte es sein. Denn dem Team ist eine sehenswerte Umsetzung ihres Textes gelungen.
Burkhard Wolf war großartig und Julian Mantaj hat mir wesentlich besser gefallen, als in Virginia Woolf. Jana Alexia Rödiger liefert ohnehin eine konstant gute Leistung. Sehr positiv überrascht war ich von Anna Eger und Ruby Ann Rawson, die mich im Woyzeck so enttäuscht hatten. Und auch Luise Hardermuss gelobt werden. Vielleicht lag es auch an der Regisseurin Franziska Autzen. Als Hausregisseurin kennt sie die Schauspieler und im Gegensatz zu Gastregisseuren, die nur für eine Inszenierung ans Haus kommen, kann sie vermutlich besser einschätzen, welche Herausforderungen unsere Schauspieler zu Höchstleistungen animieren, ohne zu überfordern.
Die eingestreuten Tanzdarbietungen mit Lightshow waren auch vom Feinsten und brachten für den anspruchsvollen Stoff eine willkommene Unterbrechung. Allerdings wurde mir nicht klar, ob die Einlagen das Geschehen im Stück dramaturgisch unterstützten, ob es also eine Verbindung mit der Handlung gab.
Denn eine Handlung hatte das Stück durchaus, auch wenn die Dramaturgin Romana Lautner im Vorfeld von einem postdramatischen Stück sprach. Auf Nachfrage meinte sie später, dass sich das eher auf die patchworkartige Anordnung von Szenen bezogen hatte. Es geht in dem Stück um Alex und ihre Freundin Toni und die sind meist doppelt auf der Bühne, einmal im Alter von vierzig Jahren und einmal als Jugendliche. Manche der Szenen spielen im Jetzt, andere in der Vergangenheit, und während die eine Figur die Szene spielt, kommentiert die andere. Oder umgekehrt. Da konnte man schon mal durcheinanderkommen, aber im Großen und Ganzen konnte ich dem Geschehen folgen und die Parallelität entwickelte eigenartigen Reiz.
Alex und Toni hatten als Jugendliche eine amouröse Beziehung, die aber von Toni abgebrochen wird, als sich Alex aus dem dörflichen, dem „einfachen“ Leben entfernt, aufs Gymnasium geht und später eine Karriere als Ausstellungskuratorin beginnt. Eine Geburtskarte von Toni zu Alex‘ vierzigsten Geburtstag bringt die beiden wieder zusammen und sie verleben eine wilde, erotische Nacht. Diesmal ist es Alex, die Toni verlässt und das Stück desillusioniert enden lässt.
Aber das ist nur die Handlung, und man kann mit gutem Recht fragen, was diese lesbische Liebesgeschichte eigentlich soll. Denn es geht der Autorin um was ganz anderes, nämlich wie es ist, wenn jemand sein Milieu verlässt und in die bessere Gesellschaft aufsteigt. Das Thema wird sehr reizvoll angetönt, wenn die Platzanweiser diesmal die Türen nicht von außen zuschlagen, sondern von innen und zu sprechen beginnen, nämlich dass jeder nun seinen Platz habe und auf dem auch sitzen bleiben solle und falls er wechseln würde, sich dann doch unwohl fühlen würde, immer das Gefühl hätte, es nicht verdient zu haben und so weiter, was es da so an subtilen Ängsten beim Sozialaufstieg geben mag.
Nun, ich kenne mich damit aus und der größte Teil meiner Jugendfreunde und einige meiner jetzigen Freunde und Bekannten sind den gleichen Weg gegangen. Die im Stück bespielten Ängste waren, wenn überhaupt, nur knapp oberhalb der Wahrnehmungsgrenze, ein ziemliches Nullthema eigentlich. Die Autorin beschreibt (und erlebt) den Prozess eine Generation später, vielleicht hat sich da was verändert. Und sicherlich gab es schon immer sensible Naturen, die enger am Sozialprestige hängen und von feinen Signalen verunsichert werden. Und auch, wenn ich die subtilen Klassenzugehörigkeitsindikatoren (Ellenbogen auf dem Tisch), die zu Schranken werden können, für eines der kleineren Übel unserer Zeit halte, gibt es Sinn, so ein Schicksal auf die Bühne zu bringen. Allein schon als Gelegenheit, alle möglichen Leute mal zu fragen, wo sie denn so herkommen.
Alex scheitert in dem Stück doppelt. In ihrer Karriere bekommt sie an ihrem Geburtstag von ihrem Chef mitgeteilt, dass nicht sie die angestrebte Leitungsposition bekommt, sondern ihr Kollege Martin, der natürlich nicht aus „einfachen“ Verhältnissen stammt. Ebenso, wie die lesbische Beziehung, schraubt Gschnitzer auch hier einen unnötigen Schnörkel ein, der das Stück auf die Gute-Frauen-Schlechte-Männer-Schiene ins zeitgeistige Einerlei abzuschieben droht. (Und, das sei angemerkt, Burkhard Wolf und Julian Mantaj spielen dieses Spiel sehr überzeugend.)
Alex gelingt es aber auch nicht, an ihr altes Leben anzuknüpfen. Früher hatte sie sich für ihre Mutter geschämt, für die fehlende Würde, wenn diese bei den Arzteltern ihrer Jugendliebschaft Johannes die Fenster putzte. Heute versteht sie nicht, wieso ihre Eltern die falsche Partei wählen. Ihr Vater war für sie als Kind der stärkste Mann der Welt, doch dann hat ihn die Globalisierung aus dem Arbeitsmarkt gedrängt, ist nun berufsunfähig und verbittert, und Alex kann nur vermuten, dass ihre Traurigkeit irgendwie mit seiner Wut zusammenhängt.
Alex kommt aus der Welt der Somewheres und ist in die Welt der Anywheres eingetreten, jener Klasse, die heute den gesellschaftlichen Diskurs bestimmt, um die sich die Politik kümmert und die durchaus mit leicht mitleidigem Blick auf die Somewheres hinabschaut. Eigentlich ist es der Rest an Empathie, den sie in sich trägt, der sie hindert, vollkommen in der neuen Klasse aufzugehen. Sehr schön zu sehen, wie ihr in Martin die Kunstszene ihre hässliche Seite zeigt, wenn es ihm nur darum geht, den letzten kulturellen Hype zu bedienen und ansonsten sich an die Tröge des Geldes und damit der Macht zu halten.
Es ist diese Innensicht aus der Kunstszene, aus der Perspektive einer homosexuellen Frau, die das Stück begrenzt. Bei einem Blick auf die vielen Familien, die heutzutage nur doppelverdienend über die Runden kommen und sich bei Wohnung und Kita um die kargen Plätze rangeln müssen, kann das Befinden der Alex möglicherweise als Jammern auf hohem Niveau erscheinen.