Die Ärztin

Sicher kein Affentheater

In ihrer Ansprache zur Eröffnung der neuen Spielzeit erwähnte unsere Intendantin, Karin Becker, dass es in Zukunft einen Publikumspreis für das beste Stück der Spielzeit geben werde. Nun, „Die Ärztin“ wird sicherlich ein heißer Kandidat für diesen Preis sein. Obwohl, wenn ich recht überlege, sollte ich mir wünschen, dass das Stück den Preis nicht bekommt. Denn das hieße im Umkehrschluss, dass noch bessere folgen werden.

Die Ärztin ist Ruth Wolff und behandelt ein 14-jähriges Mädchen, das heimlich abgetrieben und sich dabei eine Sepsis geholt hat und jetzt im Sterben liegt. Die Eltern sitzen im Flugzeug und sind nicht zu erreichen, stattdessen taucht ein Priester auf. Ruth verwehrt ihm den Zutritt zu dem Mädchen, weil jede Aufregung den Tod in Folge haben könne, es kommt sogar zum Handgemenge. Das Mädchen stirbt wenige Minuten später. Aus der Sache erwächst nach und nach ein Skandal in der Öffentlichkeit, der, angetrieben durch Ideologien rund um Geschlecht, Rasse, Religion und geschlechtliche Vorlieben, eine Eigendynamik entwickelt und das Leben von Ruth zerstört.

Das Ganze ist überaus spannend aufgereiht und deshalb versuche ich, wenig Details zu erzählen. Vor allem aber werden die verschiedenen Ideologien oder Weltanschauungen so geschickt eingeführt und miteinander verknüpft, dass es eine wahre Freude ist, dem zu folgen. Es fängt damit an, dass Ruth Gründerin und Direktorin eines Instituts zur Alzheimerforschung ist und umgeben von Männern, die Machtspiele abwickeln. Es kommt dazu, dass Ruth Jüdin ist und dass das Institut von unbekannten Sponsoren finanziert wird. Als Nächstes kommt, dass der Priester ein Schwarzer ist. Und so weiter.

Die daraus entstehenden Argumentationsmuster und Debatten werden äußerst scharf, aber ebenso ausgewogen auf die Bühne gebracht. Zuerst in der Debatte der Ärzteschaft, dann im Direktorium des Instituts und zuletzt als Fernseh-Talkshow-Ritual. So wie die Argumentationen auf ihrem Weg immer flacher und plakativer werden, so wird bei Ruth die Trennung von privatem und öffentlichem Selbst immer brüchiger. Der Autor entwirft ein äußerst feines Gespinst, aber mit vielen Dornen, damit die Gedanken daran hängenbleiben können.

Die Wandlung der Hauptperson (Anna Eger) ist das Zentrum der Erzählung. Fliegen ihr sicherlich zu Anfang Sympathien zu und hat sie auch genug Attribute, um sie als Opfer zu sehen (Frau, Jüdin, lesbisch), so tritt sie zugleich jeder identitätspolitischen Vereinnahmung auf die Füße: Arrogant zu Untergebenen, konsequent gegen jeden Quotengedanken, ärztlich korrekt bis zur Empathielosigkeit. Es kommt dann für den Zuschauer der Punkt, sich von ihr als positiver Figur zu lösen, für die einen früher, für die anderen später, aber er kommt. Irgendwann geht es nicht mehr um die Frage ihrer Integrität, so sehr man mit damit sympathisieren mag. Ihr Verhalten droht das Institut zu zerstören und damit dessen hehren Zweck, den Kampf gegen Alzheimer, zu gefährden.

Sie wird von den Mitarbeitern (Ingo Biermann, Ulrich Hoppe) ausgebootet und öffentlich vernichtet. In der Talkshow greift der schwarze Opponent (Ramses Alpha) das Wort „Affentheater“ auf, um ihr Rassismus vorzuwerfen. (Das Wort war in der Auseinandersetzung mit dem Priester gefallen.) Mit ihrem Einwand, das seien doch nur Worte, schaufelt sie ihr Grab. Im Showdown stehen sich die beiden Kontrahenten von Angesicht zu Angesicht gegenüber: „Los, sagen Sie das N-Wort, bezeichnen Sie mich damit!“. Am Ende trifft sich Ruth mit dem Priester. Die Identitätsfragen sind verblasst und als das entlarvt, was sie sind: Mittel in einem Kampf um Macht. Es geht nun um die großen Fragen: Leben, Tod, Schuld, Glaube.

Wen ich auch nach der Premiere traf, die Begeisterung war einhellig. Dass die Dialoge vor Geist sprühten, dass das Bühnenbild von Ute Radler gigantisch und dass die Kostüme von Benjamin Burgunder köstlich waren, dass die Musik von Chris Lüers den sofortigen Wunsch nach einer Playlist weckten und dass die Schauspieler unseres Ensembles souverän überzeugten – darüber war man sich schnell einig. Auch dachte ich oft, meine Gesprächspartner hätten die gleiche Sicht wie ich auf den Stoff. Aber, vielleicht erblicken andere ein gänzlich anderes Bild, wer weiß? Es ist möglicherweise das Geheimnis eines guten Theaterstoffes, dass, egal wes geistigen Kindes man ist, man trotzdem mit Genuss und in beliebiger Tiefe in das Stück eindringen kann. Den Namen Robert Icke werde ich mir jedenfalls merken.

Karin Becker als Stücke-Scout sowie Regisseurin Franziska Autzen und Dramaturgin Meike Sasse als diejenigen, die den Stoff umsetzten, ist eine wunderbare Inszenierung gelungen, die jedem eine Freude machen kann, weil er etwas von sich finden kann. Dass das, was ich im Stück gefunden hatte, so gar nicht im Programmheft vorkommt, könnte mich irritieren. Wenn ich nicht wüsste, dass das Team getroffen hatte, was ein richtiges Kunstwerk ausmacht.

Wie auch immer.

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