Nosferatu

Keine Provinzliga

Für einen kurzen Moment dachte ich, wir wohnen vielleicht einem handfesten Theaterskandal bei. Die Frauenstimme hatte soeben leicht ironisch die Gäste daran erinnert, die Handys nach der Vorstellung wieder einzuschalten. Es ist die überirdische Anmut dieser Stimme, der man sich nicht verschließen kann. Vielleicht gibt es diese Frau gar nicht, denke ich manchmal, denn mit einer solchen Stimme kann sie jeden alles tun lassen. Wieso hätte sie es nötig, solche Ansagen zu machen!

Jedenfalls, das Stimmengewirr verebbte und gespannte Stille erfasste den Münstervorplatz. Und dann passierte – nichts. Die sechs Musiker mit ihren orange-weiß gestreiften Jacken saßen unbewegt im Seiteneingang der Kirche und machte keine Anstalten, mit der Musik zu beginnen. Kein Schauspieler zeigte sich. Leises Gemurmel hob an. Und da schoss der Gedanke ein: Was wäre, wenn jetzt nichts passiert? Zwei Stunden nichts, ähnlich wie John Cages 4’33. Es wäre eine Sensation, und das Team Becker in Windeseile im ganzen Land bekannt. Allerdings wäre das dann wohl auch die letzte Aufführung in Konstanz gewesen. Die Zeiten für derlei Provokationen sind Geschichte.

Aber auch gut, dass es so nicht kam. Stattdessen begann das Stück mit einem „Erdbeben, um sich dann langsam zu steigern“ (Samuel Goldwyn). Die erste Stunde war ein Feuerwerk an Spielfreude, Spielwitz und Regieideen. Wer das nicht goutieren kann, dem fehlt ein Sensorium. Eigentlich kann ich mir gar nicht vorstellen, dass es jemandem nicht gefällt. Wobei – ich muss aufpassen. Denn das Stück hatte genau die Kombination, auf die ich abfahre: Ein „Chor“, der das Geschehen erzählt und kommentiert und dann einzelne Schauspieler, die heraustreten und das Angekündigte spielen. Fast eine szenische Lesung. Dazu ein Aufbau in einzelnen Bildern, die in Stil und Inhalt deutlich abgegrenzt sind. Man weiß immer, dass man einer Vorführung folgt und nimmt umso intensiver das Schauspielern wahr. Witzigerweise fiel Ingo Biermanns Headset aus, dann auch das herbeigeschaffte Handmikro und das dritte blieb auch zuerst stumm. „Ist das Mikro an“, rief Biermann fast verzweifelt in den Zuschauerraum und versuchte seine ohnehin laute Stimme noch weiter aufzudrehen. Die Zuschauer blieben gelassen. Irgendwie passte das ins Konzept, quasi eine dritte Ebene, die Realität, dass da Künstler sind, die genau hier und jetzt etwas vorführen.

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Königin Lear

Ohne die Waffen einer Frau

Der Vorteil des Banausentums liegt darin, Kunst unbelastet von Vorwissen genießen zu können. König Lear kannte ich bis zum Besuch der Aufführung in Konstanz nur vom Titel her und ich hatte auch darauf verzichtet, mir die Zusammenfassung in der Wikipedia anzulesen. In mir schwang darum etwas Sorge, ob ich der Aufführung würde folgen können, ohne den Stoff des Originals zu kennen.

Die Sorge war unbegründet. Die Adaption des Antwerpeners Tom Lanoye entwickelt die Handlung rund um die Erbschaft des Mischkonzerns schnörkellos und schon nach kurzer Zeit fiebert man dem Geschehen entlang. Königin Lear ist ein eigenständiges Stück, das ohne Bezug zu Shakespeares Werk funktioniert.

Was den Theaterabend zu einem Erlebnis werden ließ, war der Bühnenaufbau und die grandiose Katrin Huke. Wobei Bühnenaufbau mehr meint als die Gestaltung des Bühnenraums. Es ist die Summe aus Bühne, Beleuchtung, Ton, Musik und zu kleinerem Teil auch Kostüm, die einen imposanten Rahmen schafft, in dem sich die Schauspieler entfalten können. Aber so bemerkbar und bemerkenswert die multimediale Inszenierung ist, die von Iris Kraft, Felix Rösch, Simon Carl Köbe und Alexia Engl geschaffen wurde – nie drängt sie die Schauspieler in die zweite Reihe, immer behält sie ihre unterstützende Funktion. Regisseur Kristo Šagor versteht offensichtlich sein Handwerk.

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