Schon beim Hinabsteigen auf den mit schönem, rotem Teppich ausgelegten Stufen zurück ins Foyer war das Urteil gefällt: Das Bühnenbild von Lise Kruse war ausdrucksstark, die Puppenkopffiguren sehenswert, die Musik eindringlich, egal ob sanft oder fetzig und die Choreografie ideenreich, man hätte gerne den hinreißenden Tänzern länger zugeschaut. Doch die Figuren waren blass und ausdrucksschwach, die Dialoge tendierten gegen Langeweile. Besonders Ruby Ann Rawson brachte das Schicksal des Franz Woyzeck nicht im Ansatz glaubwürdig auf die Bühne, genauso wenig wie es Anna Eger gelang, den Hauptmann zu verkörpern. Ulrich Hoppe als Doktor und Patrick O. Beck als Tambourmajor waren solide gespielt, aber konnten das schwache Spiel der anderen nicht kompensieren.
Aber das reicht uns nicht, wir wollen auch was erleben
Gestern Abend hatten wir das Konstanzer Kulturleben in vollen Zügen eingesogen. Zuerst ging’s in den Kunstverein zur Mitgliederausstellung. Werke von 113 Künstler bedeckten die Wände wie ein Teppich und ließen uns grübeln, wie es gelingt, diese Überfülle an Werken so wohlgeordnet auf die drei Räume mit ihren zehn Wänden zu verteilen. Danach trennten sich unsere Wege. Mein Schatz ging mit vielen anderen in die Philharmonie, ich gehörte zur Gruppe, die in die Premiere zog.
Das Stück handelt von drei Paarbeziehungen. Ute K., die von Beate geliebt wird, von dem Bestatter Piotr Nagel und seinem Neffen Jason Nagel, der in dem Bestattungsunternehmen seines Onkels arbeitet und der zugleich eine alte Kindheitsbeziehung trifft, nämlich Franka, die die Kühlhalle betreibt. Das Setup ist skurril. Beate und Ute K. verdienen ihr Geld, indem sie nachts Medikamente auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Die Bestatter sollen Ute K.‘s Mann, der kürzlich gestorben ist, unter die Erde bringen. Und Franka ist im Zukunftsgeschäft: Kyronik, also das Einfrieren von frischen Leichnamen, um sie in fünfzig Jahren, wenn die Technik so weit ist, dass die Menschen nicht mehr sterben müssen, wieder aufzutauen. Handlung ist nicht viel. Ute K.‘s Mann stirbt und wird beerdigt. Mehr passiert praktisch nicht. Doch es ist keineswegs langweilig. Im Gegenteil, man wird bestens unterhalten und ist erstaunt, wie schnell die fast zwei Stunden vergehen.
Wenn man über ein Theaterstück (oder auch Kunst im Allgemeinen) spricht, wird häufig nach einem tieferen Sinn gesucht: „Was wollte uns der Autor damit sagen?“, lautet die meist unausgesprochene Frage. Die Antworten sind oft so etwas wie, dass Menschen korrupt sind, dass der Klimawandel ein Problem oder Populismus gefährlich ist. Also irgendwelche Dinge, die als wichtig angesehen oder als von universeller Bedeutung erachtet werden. Ich frage mich dann, warum der Autor oder Regisseur oder wer auch immer, das dann nicht einfach so sagt. Warum muss man dazu ein Theaterstück aufführen?
Es fühlt sich etwas falsch an, ein Theaterstück auf eine Mitteilungsformel zu reduzieren. Wenn ich es drastisch ausdrücken wollte, würde ich sagen: Wenn man Theater so sieht, versteht man dessen Kern nicht. Und wenn man so Theater macht, ist es ein Jammer. Ich finde, Theater ist zuallererst ein Erlebnis. Film ist auch ein Erlebnis, aber Theater ist besonders, weil man keine Leinwandkonserve sieht, sondern der Inszenierung beiwohnt. Das Vibrieren der Stimmlippen wird von der Luft ins Zittern der Innenohrhärchen übersetzt. Seele knüpft sich an Seele.
Als Erlebnis hat Theater durchaus transformatives Potenzial, wie jedes Erlebnis. Ich bin schließlich nur wenig mehr als die Summe meiner lebenslangen Erlebniskette. Manche Erlebnisse sind dabei nachhaltiger als andere. Wenn ein Theaterstück aber nachhaltig wirken soll, muss es tief in mich eindringen, an etwas anknüpfen, das Teil meiner Persönlichkeit ist. Und dann kann es eigentlich keine plumpe Allerweltsbotschaft sein, sondern muss subtiler, persönlicher sein.
Wer das Kleingedruckte nicht liest, kann Überraschungen erleben
Die zwei Personen, die das Stück nach einer Viertelstunde verließen, hatten vielleicht nicht bedacht, dass „sehr frei nach Miguel de Cervantes“ heißen kann, dass vom Romanstoff nichts übrigbleibt. Die, die blieben, hatten aber einen sehr unterhaltsamen und bereichernden Abend. Dass es den Zuschauern gefiel, zeigte sich früh am Lachen und am spontanen Applaus mitten im Stück.
Hannes Weiler hat das Stück geschrieben und auch die Regie geführt. Aber was heißt das, wenn zu Beginn der Proben gar kein Text existiert? Wie mag das gehen, wenn der Autor erst während der Proben den Text schreibt und laufend umschreibt? Wie auch immer, es scheint zu gehen. Voraussetzung ist natürlich, dass die Schauspieler das Theater mitmachen. Zu mindestens die Dramaturgin, Meike Sasse, wusste worauf sie sich einließ, denn sie hatte schon mit Weiler in Zürich gearbeitet. Doch offensichtlich hat er, wie sie beim Preview sagte, das Konzept diesmal auf die Spitze getrieben.
Tatsächlich konnten einige der rund hundert Zuschauer die Tränen nicht unterdrücken und irgendwann musste vermutlich jeder einmal etwas fester schlucken. Als nach der Premiere alle Mitwirkenden auf die Bühne kamen, war für die Regisseurin Susanne Frieling kein Halten mehr, sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf.
Das Kleiststück scheint zu Inszenierungen zu verleiten, an denen sich die Geister scheiden. Ich erinnere mich noch gut an die Version von Michael von zur Mühlen 2016 hier im Stadttheater, als Premierenzuschauer verärgert die Vorstellung verließen. So weit kam es diesmal nicht, aber man konnte nach der Premiere deutliche Worte hören. Denen konnte und kann ich nicht zustimmen, aber die Faszination der 2016er-Aufführung hat sich bei mir auch nach einer Woche nicht eingestellt. Warum? Bei der Spurensuche habe ich zwar lauter Zutaten gefunden, die für sich sehenswert waren. Zusammengenommen, scheinen sie sich aber nicht zu einem überzeugenden Bild zu fügen.
Beginnen wir mit dem Bühnenbild von Carolin Mittler. Man kann es nur in höchsten Tönen loben. Die Idee, das Bild, genauer, den Stich, der Kleist den Anlass bot, das Stück zu schreiben, als Bild mit Rahmen zum Bühnenbild zu erklären, ist großartig. Einzelne Teile des Schwarzweißbildes können als Einrichtungsgegenstände bewegt werden. Damit verschmelzen Bild und Spiel in manchmal verwirrender Weise.
Für einen kurzen Moment dachte ich, wir wohnen vielleicht einem handfesten Theaterskandal bei. Die Frauenstimme hatte soeben leicht ironisch die Gäste daran erinnert, die Handys nach der Vorstellung wieder einzuschalten. Es ist die überirdische Anmut dieser Stimme, der man sich nicht verschließen kann. Vielleicht gibt es diese Frau gar nicht, denke ich manchmal, denn mit einer solchen Stimme kann sie jeden alles tun lassen. Wieso hätte sie es nötig, solche Ansagen zu machen!
Jedenfalls, das Stimmengewirr verebbte und gespannte Stille erfasste den Münstervorplatz. Und dann passierte – nichts. Die sechs Musiker mit ihren orange-weiß gestreiften Jacken saßen unbewegt im Seiteneingang der Kirche und machte keine Anstalten, mit der Musik zu beginnen. Kein Schauspieler zeigte sich. Leises Gemurmel hob an. Und da schoss der Gedanke ein: Was wäre, wenn jetzt nichts passiert? Zwei Stunden nichts, ähnlich wie John Cages 4’33. Es wäre eine Sensation, und das Team Becker in Windeseile im ganzen Land bekannt. Allerdings wäre das dann wohl auch die letzte Aufführung in Konstanz gewesen. Die Zeiten für derlei Provokationen sind Geschichte.
Aber auch gut, dass es so nicht kam. Stattdessen begann das Stück mit einem „Erdbeben, um sich dann langsam zu steigern“ (Samuel Goldwyn). Die erste Stunde war ein Feuerwerk an Spielfreude, Spielwitz und Regieideen. Wer das nicht goutieren kann, dem fehlt ein Sensorium. Eigentlich kann ich mir gar nicht vorstellen, dass es jemandem nicht gefällt. Wobei – ich muss aufpassen. Denn das Stück hatte genau die Kombination, auf die ich abfahre: Ein „Chor“, der das Geschehen erzählt und kommentiert und dann einzelne Schauspieler, die heraustreten und das Angekündigte spielen. Fast eine szenische Lesung. Dazu ein Aufbau in einzelnen Bildern, die in Stil und Inhalt deutlich abgegrenzt sind. Man weiß immer, dass man einer Vorführung folgt und nimmt umso intensiver das Schauspielern wahr. Witzigerweise fiel Ingo Biermanns Headset aus, dann auch das herbeigeschaffte Handmikro und das dritte blieb auch zuerst stumm. „Ist das Mikro an“, rief Biermann fast verzweifelt in den Zuschauerraum und versuchte seine ohnehin laute Stimme noch weiter aufzudrehen. Die Zuschauer blieben gelassen. Irgendwie passte das ins Konzept, quasi eine dritte Ebene, die Realität, dass da Künstler sind, die genau hier und jetzt etwas vorführen.
Der Vorteil des Banausentums liegt darin, Kunst unbelastet von Vorwissen genießen zu können. König Lear kannte ich bis zum Besuch der Aufführung in Konstanz nur vom Titel her und ich hatte auch darauf verzichtet, mir die Zusammenfassung in der Wikipedia anzulesen. In mir schwang darum etwas Sorge, ob ich der Aufführung würde folgen können, ohne den Stoff des Originals zu kennen.
Die Sorge war unbegründet. Die Adaption des Antwerpeners Tom Lanoye entwickelt die Handlung rund um die Erbschaft des Mischkonzerns schnörkellos und schon nach kurzer Zeit fiebert man dem Geschehen entlang. Königin Lear ist ein eigenständiges Stück, das ohne Bezug zu Shakespeares Werk funktioniert.
Was den Theaterabend zu einem Erlebnis werden ließ, war der Bühnenaufbau und die grandiose Katrin Huke. Wobei Bühnenaufbau mehr meint als die Gestaltung des Bühnenraums. Es ist die Summe aus Bühne, Beleuchtung, Ton, Musik und zu kleinerem Teil auch Kostüm, die einen imposanten Rahmen schafft, in dem sich die Schauspieler entfalten können. Aber so bemerkbar und bemerkenswert die multimediale Inszenierung ist, die von Iris Kraft, Felix Rösch, Simon Carl Köbe und Alexia Engl geschaffen wurde – nie drängt sie die Schauspieler in die zweite Reihe, immer behält sie ihre unterstützende Funktion. Regisseur Kristo Šagor versteht offensichtlich sein Handwerk.
Sieben Schauspieler, die noch in der Ausbildung, oder gerade erst fertig sind, führen ein Stück über die Probleme Jugendlicher auf. Da ist man natürlich gespannt, wie sich der Nachwuchs schlägt. Und ich will es gleich zu Beginn sagen: Es weckt die Erwartung, dass eine tolle Schauspielergeneration an die Türen unserer Theater klopfen wird. Die Sieben haben mich alle überzeugt, ich habe schon schwächere Leistungen bei unserem festen Ensemble gesehen. Vielleicht war die Aufgabe auch nicht allzu schwer, es wurde viel im Chor gesprochen, einzelne Charaktere wurden nur skizzenhaft verkörpert, aber egal: das was man sah, war gelungen aufgeführt.
Überhaupt war das Stück unterhaltsam und kurzweilig, was sicherlich auch an seiner Kürze lag. Kaum länger als eine Stunde dauerte die Inszenierung. Das Bühnenbild sehr sparsam, auch im tatsächlichen Sinn, denn man hat einfach den schrägen Boden von „The Black Rider“ belassen und lediglich ein Podest mit einem ein schmucken, übermannshohen Blumengesteck aufgestellt und dahinter ein Stück Stoff mit einem lichten Wölkchenhimmel gespannt. Auf und vor dem Podest wurde dann gesprochen, getanzt, gesungen, mit viel flotter Musik und drei Kostümierungen: Mal in hautfarbener Wäsche, dann in diesen unsäglichen Trainingsanzügen („… hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, KL), dazu noch in Teletubbiesfarben und am Ende dann in schwarzen, punkigen Aufzügen.
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Fangen wir mit dem Positiven an. Bühne, Kostüme, Musik und Videoanimation sind erneut großartig. Alles Grau bis auf die roten Socken der Schauspieler, leere Bühne nur in der Mitte ein kreisrundes Loch. Und dieses Loch wird ideenreich und kreativ bespielt, sei es als Verhörraum, sei es als Öffnung in ein Spiegelkabinett, sei es als Hamsterrad – immer neue Variationen überraschen die Zuschauer. Beeindruckend schon das Intro, wenn die vier Schauspieler gegen die Bühne projiziert werden und eine Party mit gefühlt dutzenden von Tanzenden simulieren. Großes Kompliment!