Tatsächlich konnten einige der rund hundert Zuschauer die Tränen nicht unterdrücken und irgendwann musste vermutlich jeder einmal etwas fester schlucken. Als nach der Premiere alle Mitwirkenden auf die Bühne kamen, war für die Regisseurin Susanne Frieling kein Halten mehr, sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf.
Das Kleiststück scheint zu Inszenierungen zu verleiten, an denen sich die Geister scheiden. Ich erinnere mich noch gut an die Version von Michael von zur Mühlen 2016 hier im Stadttheater, als Premierenzuschauer verärgert die Vorstellung verließen. So weit kam es diesmal nicht, aber man konnte nach der Premiere deutliche Worte hören. Denen konnte und kann ich nicht zustimmen, aber die Faszination der 2016er-Aufführung hat sich bei mir auch nach einer Woche nicht eingestellt. Warum? Bei der Spurensuche habe ich zwar lauter Zutaten gefunden, die für sich sehenswert waren. Zusammengenommen, scheinen sie sich aber nicht zu einem überzeugenden Bild zu fügen.
Beginnen wir mit dem Bühnenbild von Carolin Mittler. Man kann es nur in höchsten Tönen loben. Die Idee, das Bild, genauer, den Stich, der Kleist den Anlass bot, das Stück zu schreiben, als Bild mit Rahmen zum Bühnenbild zu erklären, ist großartig. Einzelne Teile des Schwarzweißbildes können als Einrichtungsgegenstände bewegt werden. Damit verschmelzen Bild und Spiel in manchmal verwirrender Weise.
Für einen kurzen Moment dachte ich, wir wohnen vielleicht einem handfesten Theaterskandal bei. Die Frauenstimme hatte soeben leicht ironisch die Gäste daran erinnert, die Handys nach der Vorstellung wieder einzuschalten. Es ist die überirdische Anmut dieser Stimme, der man sich nicht verschließen kann. Vielleicht gibt es diese Frau gar nicht, denke ich manchmal, denn mit einer solchen Stimme kann sie jeden alles tun lassen. Wieso hätte sie es nötig, solche Ansagen zu machen!
Jedenfalls, das Stimmengewirr verebbte und gespannte Stille erfasste den Münstervorplatz. Und dann passierte – nichts. Die sechs Musiker mit ihren orange-weiß gestreiften Jacken saßen unbewegt im Seiteneingang der Kirche und machte keine Anstalten, mit der Musik zu beginnen. Kein Schauspieler zeigte sich. Leises Gemurmel hob an. Und da schoss der Gedanke ein: Was wäre, wenn jetzt nichts passiert? Zwei Stunden nichts, ähnlich wie John Cages 4’33. Es wäre eine Sensation, und das Team Becker in Windeseile im ganzen Land bekannt. Allerdings wäre das dann wohl auch die letzte Aufführung in Konstanz gewesen. Die Zeiten für derlei Provokationen sind Geschichte.
Aber auch gut, dass es so nicht kam. Stattdessen begann das Stück mit einem „Erdbeben, um sich dann langsam zu steigern“ (Samuel Goldwyn). Die erste Stunde war ein Feuerwerk an Spielfreude, Spielwitz und Regieideen. Wer das nicht goutieren kann, dem fehlt ein Sensorium. Eigentlich kann ich mir gar nicht vorstellen, dass es jemandem nicht gefällt. Wobei – ich muss aufpassen. Denn das Stück hatte genau die Kombination, auf die ich abfahre: Ein „Chor“, der das Geschehen erzählt und kommentiert und dann einzelne Schauspieler, die heraustreten und das Angekündigte spielen. Fast eine szenische Lesung. Dazu ein Aufbau in einzelnen Bildern, die in Stil und Inhalt deutlich abgegrenzt sind. Man weiß immer, dass man einer Vorführung folgt und nimmt umso intensiver das Schauspielern wahr. Witzigerweise fiel Ingo Biermanns Headset aus, dann auch das herbeigeschaffte Handmikro und das dritte blieb auch zuerst stumm. „Ist das Mikro an“, rief Biermann fast verzweifelt in den Zuschauerraum und versuchte seine ohnehin laute Stimme noch weiter aufzudrehen. Die Zuschauer blieben gelassen. Irgendwie passte das ins Konzept, quasi eine dritte Ebene, die Realität, dass da Künstler sind, die genau hier und jetzt etwas vorführen.
Der Vorteil des Banausentums liegt darin, Kunst unbelastet von Vorwissen genießen zu können. König Lear kannte ich bis zum Besuch der Aufführung in Konstanz nur vom Titel her und ich hatte auch darauf verzichtet, mir die Zusammenfassung in der Wikipedia anzulesen. In mir schwang darum etwas Sorge, ob ich der Aufführung würde folgen können, ohne den Stoff des Originals zu kennen.
Die Sorge war unbegründet. Die Adaption des Antwerpeners Tom Lanoye entwickelt die Handlung rund um die Erbschaft des Mischkonzerns schnörkellos und schon nach kurzer Zeit fiebert man dem Geschehen entlang. Königin Lear ist ein eigenständiges Stück, das ohne Bezug zu Shakespeares Werk funktioniert.
Was den Theaterabend zu einem Erlebnis werden ließ, war der Bühnenaufbau und die grandiose Katrin Huke. Wobei Bühnenaufbau mehr meint als die Gestaltung des Bühnenraums. Es ist die Summe aus Bühne, Beleuchtung, Ton, Musik und zu kleinerem Teil auch Kostüm, die einen imposanten Rahmen schafft, in dem sich die Schauspieler entfalten können. Aber so bemerkbar und bemerkenswert die multimediale Inszenierung ist, die von Iris Kraft, Felix Rösch, Simon Carl Köbe und Alexia Engl geschaffen wurde – nie drängt sie die Schauspieler in die zweite Reihe, immer behält sie ihre unterstützende Funktion. Regisseur Kristo Šagor versteht offensichtlich sein Handwerk.
Sieben Schauspieler, die noch in der Ausbildung, oder gerade erst fertig sind, führen ein Stück über die Probleme Jugendlicher auf. Da ist man natürlich gespannt, wie sich der Nachwuchs schlägt. Und ich will es gleich zu Beginn sagen: Es weckt die Erwartung, dass eine tolle Schauspielergeneration an die Türen unserer Theater klopfen wird. Die Sieben haben mich alle überzeugt, ich habe schon schwächere Leistungen bei unserem festen Ensemble gesehen. Vielleicht war die Aufgabe auch nicht allzu schwer, es wurde viel im Chor gesprochen, einzelne Charaktere wurden nur skizzenhaft verkörpert, aber egal: das was man sah, war gelungen aufgeführt.
Überhaupt war das Stück unterhaltsam und kurzweilig, was sicherlich auch an seiner Kürze lag. Kaum länger als eine Stunde dauerte die Inszenierung. Das Bühnenbild sehr sparsam, auch im tatsächlichen Sinn, denn man hat einfach den schrägen Boden von „The Black Rider“ belassen und lediglich ein Podest mit einem ein schmucken, übermannshohen Blumengesteck aufgestellt und dahinter ein Stück Stoff mit einem lichten Wölkchenhimmel gespannt. Auf und vor dem Podest wurde dann gesprochen, getanzt, gesungen, mit viel flotter Musik und drei Kostümierungen: Mal in hautfarbener Wäsche, dann in diesen unsäglichen Trainingsanzügen („… hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, KL), dazu noch in Teletubbiesfarben und am Ende dann in schwarzen, punkigen Aufzügen.
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Fangen wir mit dem Positiven an. Bühne, Kostüme, Musik und Videoanimation sind erneut großartig. Alles Grau bis auf die roten Socken der Schauspieler, leere Bühne nur in der Mitte ein kreisrundes Loch. Und dieses Loch wird ideenreich und kreativ bespielt, sei es als Verhörraum, sei es als Öffnung in ein Spiegelkabinett, sei es als Hamsterrad – immer neue Variationen überraschen die Zuschauer. Beeindruckend schon das Intro, wenn die vier Schauspieler gegen die Bühne projiziert werden und eine Party mit gefühlt dutzenden von Tanzenden simulieren. Großes Kompliment!
Jetzt also mein erstes Jelinekstück. Im Vorfeld hatten wir ein Treffen mit Frau Dr. Kuberg, die beim zugehörigen pro.log am kommenden Sonntag (30.01.2022, 11 Uhr in der Spiegelhalle) referieren wird: Abstimmung zwischen Vortrag und Moderation. Dabei habe ich etwas über Jelineks Theater gelernt.
Jetzt habe ich gleich zwei Stücke über jüdische Familien gesehen. Zuerst Die Träume der Abwesenden von Judith Herzberg und, kurz danach, das Stück von Sasha Marianna Salzmann. Beide Aufführungen zeigen, wie die Shoa nicht aus dem Leben der Familien weggedacht werden kann und wie unterschiedlich die jeweils drei Generationen damit umgehen. Herzbergs Trilogie ist ein Epos von fünf Stunden, mit 15 Protagonisten, und viel Handlung über mehrere Jahrzehnte. Salzmann dagegen verzichtet auf Handlung und gewährt dafür Einblick in das Seelenleben der drei Protagonisten: Großmutter, Tochter, Enkelin.
Könnte es sein, dass unsere Intendantin, Karin Becker, im letzten Winter schon wusste, dass Deutschland im November 2021 in schwerer Multikrise niedergedrückt sein würde? Dass die Menschen von Sorgen vor Krankheit, Angst um ihre Grundrechte, in Hass und Ärger aufeinander aufgewühlt und depressiv durch die dunklen Tage schleichen würden? Und dass sie dringend einer Aufmunterung bedürfen würden?
Vielleicht hat sie auch ihr Programm zusammengestellt nach dem Motto: Von allem etwas, dann ist für jeden was dabei. Wie auch immer. Ihre Wahl, nach klassischen, intellektuellen, experimentellen und romantischen Stoffen, nun den Humor in den November zu legen, war vermutlich nicht zufällig, und ganz sicher eine richtige Wahl.
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Diesmal hatte ich die Gelegenheit ergriffen, mir den Preview zu Anna Karenina anzuschauen. Der Preview ist die letzte oder vorletzte Probe vor der Premiere. Als Mitglied im Theaterfreundeverein genießt man das Privileg, diesen Preview besuchen zu dürfen. Dramaturgie oder Regie geben eine kleine Einführung und im Anschluss gibt es ein Gespräch, in dem es vor allem darum geht, wie bestimmte Passagen aufgenommen wurden. Man blickt etwas hinter die Kulissen und lernt dazu.
Nach dem Preview, von dem ich nur die erste Halbzeit gesehen hatte, war ich enttäuscht. Was soll denn so ein Stück? Drei Paare der High Society mit ihren Beziehungsproblemen, Problemen von vor über hundert Jahren, mit denen sich heutzutage Pubertierende herumschlagen? Das Ganze reichlich konventionell vorgetragen. Zu keinem Zeitpunkt hatte mich die Aufführung berührt. Lediglich das hohe Handlungstempo hielt die müden Augen offen.
Wie anders dann die Premiere! Eigentlich hatte sich nichts verändert, aber plötzlich lebte das Stück. Schon die erste Szene markierte den Unterschied. Ioachim-Willhelm Zarculeaals als Lewin betritt mit Schlittschuhen die Bühne und schaut auf wackeligen Beinen ins Publikum. Das heißt, in einen vollbesetzten Saal erwartungsfreudiger Zuschauer. Ausgehungert nach Theater, wenn man so will, wie später Anna sich als ausgehungert nach Liebe bezeichnet. Und die Zuschauer schauen zurück und warten, dass etwas passiert. Und Zarculeaals seinerseits wartet und steigert die Erwartung der Zuschauer. So funktioniert Theater, endlich wieder alte Normalität.